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„Wir müssen uns noch viel weiterentwickeln!“

„Wir müssen uns noch viel weiterentwickeln!“ – Gedanken eines (alternden) weißen Cis-Mannes anlässlich der Vorfälle im Pride-Month Juni
Pride Flag by Cecilie Johnsen

Es gibt sicherlich profundere Kenner:innen und Expert:innen im Bereich von LQBTQI+ als meine Person und vielleicht bestätige ich damit das Vorurteil, dass man als (alternder) weißer Cis-Mann zu allem seinen Kommentar abgeben muss.

Ich werde dies aber auf mich nehmen, weil ich es mir als Mensch wichtig ist, dass man sich zu bestimmten Punkten positioniert und Stellung bezieht.
Anlass sind die Vorfälle (nicht nur, aber aktuell im Besonderen) im Pride-Month Juni, die wiederholt zeigen, dass wir als Gesellschaft noch lange nicht dort sind, wo wir vermeintlich zu stehen vermeinen.

Beispielhaft sind hier die homophobe Störaktion der Kinderbuchlesung am 03.06.2022 und die Zerschneidung der Regenbogenfahne in Tulln in NÖ am 10.06.2022. Von den verbalen und teils auch körperlichen Übergriffen im Alltag gar nicht zu reden.

In Österreich war und ist eine negative Haltung gegenüber LQBTQI+ leider zumeist schon in der Grundsozialisation von Kindern enthalten und ist ein Grundelement der patriarchal geprägten Gesellschaftshaltung – wo alles negativ gesehen wird und oftmals verächtlich gemacht wird, was die traditionelle Haltung infrage stellt oder sonst wie gefährdet.

Ich selbst kenne und erinnere mich an solche gelebten Klischees. Wolltest du nicht bei irgendwelchen vermeintlichen Männlichkeitsritualen mitmachen oder im Bedarfsfall deinen Standpunkt mit Gewalt untermauern, bist du schnell als „Schwuchtel“ beschimpft worden. War die Kleidung nicht „weiblich“ genug, hattest du vielleicht noch einen Kurzhaarschnitt und bist nicht gleich auf jeden Anmachversuch eingegangen, war es zur Titulierung der „Lesbe“ nicht weit.

Im Sprachlichen sind manche Herabwertungen teils versteckt und fallen auf den 1. Blick nicht direkt auf.

Wenn man von „alternativen Lebensstilen“ redet, intendiert dies, dass diese abweichend von der Norm sind.
Was hat dies nun mit meinem Eingangsstatement zu tun? Aus meiner Sicht fängt es im vermeintlich kleinen in der Kindheit schon an und zieht sich, wenn nicht reflektiert, schlimmstenfalls das ganze Leben lang durch. Vor allem in Zeiten von Krisen tritt dies vermehrt und offensichtlicher zutage, da – psychologisch und gruppendynamisch betrachtet – die Ausgrenzung einer bestimmten Gruppe das eigene Sicherheitsgefühl und -bedürfnis befriedigen kann.

Nicht umsonst berichten in diesem Bereich tätige NGOs von steigenden Zahlen bei den Übergriffen.

Was kann man aber machen, wenn man mit Kindern, Jugendlichen und/oder Erwachsenen zu tun hat, wo Alltagsdiskriminierung und/oder Hass gegen LQBTQI+ vorhanden ist und gelebt wird?

Wichtig ist es – und hier kommt es auf uns ALLE an – Grenzen zu ziehen.

Verharmlosen oder (eventuell aus gruppendynamischen Gründen) mitmachen darf keine Option sein. Genauso wichtig ist es, über Sexualität, Geschlecht und Geschlechterbilder zu reden, auf Ängste einzugehen und aufzuklären. Dies ist leider leichter gesagt als getan.


Bei NEUSTART beschäftigen wir uns vor allem in der Bewährungshilfe, bzw. beim Programm „Dialog statt Hass“ bei Verhetzung intensiv mit dieser Problematik. Gegenseitiger Respekt und Achtung sind eines unser Hauptanliegen in der Arbeit mit unseren Klient:innen. Wir sehen unsere Klient:innen als Menschen, unabhängig von Geschlecht und Sexualität. Dies versuchen wir ihnen auch weiterzugeben und arbeiten daher auch an Vorurteilen und toxischen Rollenbildern. Über die Beziehungsarbeit gelingt es hier oft, verinnerlichte Muster aufzuarbeiten und die Perspektive zu erweitern.


Und Zuletzt: Man muss immer auch bei sich selbst anfangen.

Ich selbst merke immer noch (glücklicherweise immer seltener), dass ich auf alte Vorurteile anspringe (aus meiner Zeit bei Schule, Präsenzdienst, Freundes- und Bekanntenkreis, Alltagskontakte) – warum ich auch besonders als alternder, weißer Cis-Mann darauf achte. Dadurch kann ich zumindest einen kleinen Beitrag leisten.

Alexander Grohs ist Leiter von NEUSTART Niederösterreich und Burgenland

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Über die/den Autor:in

Leiter von NEUSTART Niederösterreich und Burgenland seit 2017. Zuvor Abteilungsleiter und Sozialarbeiter, im Schwerpunkt tätig in der Bewährungshilfe, Haftentlassenenhilfe und Anti-Gewalt-Training.
Nebenberuflicher Lektor an der der FH St. Pölten für „Devianz und Strafrecht“. Referent für Gewaltarbeit und (De-)Radikalisierung.
Vor NEUSTART als Flüchtlingsberater, Outplacer und Schulsozialarbeiter beschäftigt.

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