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Zehn Gebote guter Kriminalpolitik

Eine klare Positionierung, wie eine sozialkonstruktive Kriminalpolitik aussehen kann, wurde von  Expertinnen und Experten des Netzwerk Kriminalpolitik erarbeitet. In den zehn Geboten einer guten Kriminalpolitik werden Prinzipien des effizienten Handelns auf unterschiedlichen Ebenen formuliert.

Gute Kriminalpolitik braucht Zeit und Geduld und ist nicht emotional, sondern wissens- und faktenbasiert und vom Verständnis für soziale Zusammenhänge getragen. Sie orientiert sich somit an empirischen sowie rechtswissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht an tagespolitischen medialen Forderungen. Sie verfolgt daher konsequent langfristige Ziele und orientiert sich nicht an Wahlperioden. Anlassbezogene Erhöhungen von Strafandrohungen missachten die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und sind weitgehend wirkungslos.

Gute Kriminalpolitik setzt sich mit unterschiedlichen Standpunkten kritisch auseinander und lässt zeitgerecht strafrechtswissenschaftliche Erkenntnisse, Expertenwissen und Erfahrungen der Praxis in die Entscheidungsprozesse einfließen. Sie thematisiert auch unbeabsichtigte Wirkungen sowie Kosten und Nachteile im weitesten Sinn.

Im Gesetzgebungsverfahren kommt dem Begutachtungsverfahren hohe Bedeutung zu. Bewährte Formen der Einbeziehung von NGOs (Nichtregierungsorganisationen) in die Ausgestaltung und Umsetzung kriminalpolitischer Zielsetzungen sind auszubauen.

Rationale Kriminalpolitik stärkt das Vertrauen in den Wert des Rechtsstaats und fördert das allgemeine Bewusstsein, dass eine nachhaltige und effiziente Gewährung rechtsstaatlicher Garantien nur durch ausreichende personelle und sachliche Ressourcen gesichert werden kann.

Niemand, auch nicht, wer gegen die Strafgesetze verstößt, verliert das Recht auf ein Leben in Würde und in Grundsicherung. 

Aus diesem Grund lehnt gute Kriminalpolitik nicht nur Todes- und Körperstrafen ab, sondern auch Freiheitseinschränkungen und Zwangsmaßnahmen, welche die Würde der Person verletzen. Grund- und Menschenrechte dürfen nicht dem Wunsch, Kriminalität vorzubeugen und entgegenzutreten, geopfert und auch bei Straftätern nur mit Zurückhaltung eingeschränkt werden.

Kriminalität ist traditionell in weiten Bereichen mit einem Randgruppendasein verbunden. Auch deshalb benötigen Beschuldigte einen niederschwelligen und kostengünstigen Zugang zum Recht. Daher ist beispielsweise die Möglichkeit der Beiziehung von Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger ab Beginn der Ermittlung im Wege einer Prozesskostenhilfe bei wirtschaftlicher Bedürftigkeit deutlich auszubauen. Insbesondere um die Qualität der Verfahrenshilfe für Mittellose abzusichern, sollte eine Um- und Ausgestaltung der Verfahrenshilfe erfolgen.

Kriminalpolitik soll nicht von Mängeln in anderen Politikfeldern, insbesondere in der Bildungs-, Sozial- und Wirtschafts-, Gesundheits-, Migrations- und Integrationspolitik ablenken. Sie kann deren Mängel und Versäumnisse nicht kompensieren.

Politik steht stets vor dem Problem, soziale Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt in einer sich verändernden Gesellschaft zu gewährleisten. Ihr Zeithorizont ist dabei kurz und sie unterliegt nicht zuletzt finanziellen Restriktionen. Der Kampf gegen Armut und ungleiche soziale Chancen, vor allem, wenn man ihn
auch international denkt, ist jedoch langwierig. Dagegen scheint das strafrechtliche Vorgehen gegen Verbrechen oder Drogen raschen politischen Erfolg und öffentliche Zustimmung zu versprechen, auch wenn sich die Wirksamkeit empirisch nicht belegen lässt. Die Kriminalisierung von Armen sowie von Armutsmigrantinnen und Armutsmigranten ist leichter zu bewerkstelligen als Mindestsicherung, internationale Entwicklungspolitik und Migrationskontrolle.

Das Strafrecht darf weder als Lückenbüßer missbraucht werden für eine unzureichende Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, die für Arbeitslosigkeit vor allem auch junger Menschen verantwortlich ist, noch für eine unzulängliche Politik psychosozialer Gesundheit, die psychisch Kranke unversorgt zur Gefahr für sich und
andere werden lässt. Sie darf auch nicht für eine misslungene Migrations- und Integrationspolitik eingesetzt werden, die zwischen Willkommen und Zurückweisung schwankt und für Migrantinnen und Migranten vielfach Situationen der Ungewissheit und Perspektivlosigkeit schafft. Gute Kriminalpolitik beruht auf einer ganzheitlichen Politik sozialer und wirtschaftlicher Problemlösung.

Das Strafrecht ist überfordert, einen gesellschaftlichen Konsens in Fragen der richtigen Lebensweise und Weltanschauung zu erzwingen. Vielmehr ist es seine Aufgabe, einen vorhandenen Grundkonsens in Kernbereichen gesellschaftlicher Normen zu unterstreichen. Überregulierung beschädigt nachhaltig die Legitimität des Strafrechts.

Das Kriminalstrafrecht soll nur zur Steuerung von Normverletzungen mit gewichtigem gesellschaftlichem Störwert eingesetzt werden, wenn andere Mittel wie Zivilrecht, Mediation, sozial- und gesundheitspolitische Interventionen, Verwaltungssanktionen und dergleichen nicht ausreichen.

Kriminalpolitik hat zwischen unterschiedlichen und auch widersprüchlichen Zielen und Aufgaben Balance zu halten. Sie hat Gefahren und Gefährlichkeit abzuschätzen und zu berücksichtigen, ohne Fairness und Verhältnismäßigkeit der Intervention aus dem Auge zu verlieren.

Strafen, insbesondere Gefängnisstrafen, sind als ultima ratio zu verstehen. Wenn möglich ist sozial konstruktiven Sanktionsformen der Vorzug zu geben.

Im Bereich der Sanktionen genießt nach der Konzeption des StGB die Geldstrafe Vorrang. In der Praxis gilt dies aber nur bedingt, weil Geldstrafen bei vielen kaum einbringlich sind und sich die Gerichte daher vorweg für eine Freiheitsstrafe entscheiden. Hier sind neue Wege zu gehen. Weitere eigenständige Sanktionen wie
gemeinnützige Leistungen sind dabei nur eine Alternative, um die mit einer Haft einhergehende Entsozialisierung des Straftäters zu vermeiden. Darüber hinaus sollten Modifikationen im Bereich der Diversion überlegt werden, wie z.B. bei sozialem Interventionsbedarf zusätzliche Betreuungsmaßnahmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine zu starke Ausdifferenzierung des Sanktionensystems zu Net-Widening-Effekten und damit im Ergebnis zu mehr strafrechtlichen Sanktionen führen kann.

Da auch verwaltungsstrafrechtliche Sanktionen entsozialisierend wirken können, sollten für diesen Bereich ebenfalls Möglichkeiten der Einführung diversioneller Maßnahmen geprüft werden.

Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte müssen frei sein von parteipolitischem Einfluss.

Die Justiz repräsentiert die Gesellschaft in ihrer Breite und rekrutiert sich aus beiden Geschlechtern sowie unterschiedlichem sozialen und soziokulturellen Hintergrund. Eine gesellschafts- und humanwissenschaftliche Qualifikation der Rechtsanwender ergänzt die juristische und macht mit sozialen Realitäten vertraut, die sich von den eigenen Erfahrungen unterscheiden können.

Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ist mit ganzheitlichen Evaluationen der Arbeit des Justizsystems (z.B. Vergleiche zwischen Gerichtssprengeln) vereinbar.

Gute Kriminalpolitik beachtet die menschlichen Entwicklungspotentiale in jeder Lebensphase.

Dies gilt insbesondere für das Jugend- und junge Erwachsenenalter. Gute Kriminalpolitik traut daher grundsätzlich auch den Menschen, die gegen Gesetze verstoßen, zu, sich zu ändern und leitet Unterstützungs-, Förderungs- und Behandlungsmaßnahmen im weitesten Sinne ein. Vor diesem Hintergrund sind vor allem bei straffälligen jungen Menschen zunächst alle intervenierenden Möglichkeiten des Familien- und Jugendhilferechts, der Sozialarbeit sowie der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik auszuschöpfen, bevor strafrechtliche Interventionen in Betracht gezogen werden.

Die Zahl psychisch kranker Menschen im Fokus der Strafjustiz scheint in gleichem Maße zuzunehmen wie sich die Gesellschaft schwer tut, mit dieser Gruppe umzugehen. Eine attestierte Gefährlichkeit führt tendenziell zu langem Freiheitsentzug, der zu einem wesentlichen Teil auch auf einer fehlenden Zusammenarbeit zwischen Gesundheits- und Sicherheitsbehörden basiert.

Das Maßnahmenrecht darf nicht dazu missbraucht werden, als Lückenbüßer für ein Versagen des Gesundheitssystems und die Angst der Menschen vor psychisch Kranken herzuhalten. Die Reaktionen auf Straftaten von psychisch kranken Menschen müssen behandlungsorientiert sein und die ehest mögliche
Wiedererlangung der Freiheit zum Ziel haben.

Das Erfordernis der fehlenden Gefährlichkeit bei der Entscheidung über Freiheitsmaßnahmen und Entlassungen darf nicht dazu führen, eine absolute Sicherheit bei der Prognoseentscheidung zu verlangen, denn Prognoseentscheidungen sind auch bei höchster fachlicher Kompetenz mit gewissen Unsicherheiten verbunden. Eine freiheitsliebende Gesellschaft muss Wege suchen, mit einem Rest an Unsicherheit in vertretbarer Weise umzugehen.

Allgemein muss der strafrechtliche Eingriff für einen Rechtsbrecher spürbar und rational verstehbar sein sowie unter Berücksichtigung aller Konsequenzen auch die Verhältnismäßigkeit wahren. Daher sind die sozialen und rechtlichen Nebenfolgen einer begangenen und zu bewältigenden Straftat in die Beurteilung der
Angemessenheit einzubeziehen.

Infolgedessen sind für die angemessene Reaktion auch von Bedeutung: zivilrechtliche Reaktionen auf das strafbare Verhalten (Schadenersatz), Rechtsfolgen aus dem Bereich des Verwaltungsrechts (z.B. Fremdenrecht, Verlust von Berechtigungen) sowie eine erfolgte Konfliktregelung einschließlich Schadensausgleich. Die Strafzumessung stellt somit eine Gesamtbeurteilung aller Reaktionen auf eine Straftat dar.

Darüber hinaus muss jede Intervention grundsätzlich auf (Re-)Integration in die Gesellschaft ausgerichtet sein. Dabei kann der Interventionsbedarf individuell verschieden sein und auch Sanktionsverzicht – wenn aus spezialpräventiver Sicht möglich – angemessen sein.

Wem es an Integration mangelt, bei dem ist die Strafzumessung mit sozialarbeiterischen und sozialtherapeutischen Maßnahmen und Hilfestellungen zu verbinden.

Interventionen, die die Nutzung der Ressourcen im sozialen Umfeld von Straftäterinnen und Straftätern verbessern (z.B. Sozialnetzkonferenzen), sind auszubauen.

Die Bedürfnisse von Opfern nach Achtsamkeit und Unterstützung sind in allen Phasen der Strafverfolgung zu respektieren. Es handelt sich dabei um Bedürfnisse nach Anerkennung des Opferstatus, nach Schutz vor weiteren Schädigungen und Beeinträchtigungen, um Schonung im Zusammenhang mit der Rolle als Zeugin oder Zeuge sowie um das Interesse an der Durchführung eines Strafverfahrens, an der Befriedigung der zivilrechtlichen Ansprüche aus der Tat und an der Möglichkeit zur Mitwirkung am Strafverfahren durch Wahrnehmung subjektiver Rechte.

Die Verarbeitung der Folgen von Straftaten auf Opferseite und deren Entschädigung genießen hohen Stellenwert. Opfer von Straftaten brauchen daher die Solidarität der Gesellschaft. Unabhängig von einem Strafverfahren erhalten Opfer Unterstützung durch allgemeine und spezialisierte Opferhilfeeinrichtungen, für deren Finanzierung die öffentliche Hand aufkommt. Der Staat gewährt Opfern schwerer Straftaten
Vorschussleistungen auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche aus der Tat.

Die Berücksichtigung der Bedürfnisse und Interessen von Opfern in der Strafprozessordnung ist so zu gestalten, dass Opferrechte effektiv werden können. Eine so verstandene Opfergerechtigkeit zielt auf das Bemühen ab, Nachteile, die Opfer durch eine Straftat erleiden, auszugleichen bzw. sie vor möglichen weiteren Nachteilen im Zusammenhang mit einem Strafverfahren zu bewahren.

Dieser Zielsetzung dient auch die (Re)Integration des Straftäters in die Rechtsgemeinschaft. Die persönlichen Anliegen von Opfern sollen daher bei Wahrung ihrer Sicherheitsbedürfnisse nicht zu einer Gefährdung der (Re)Integration von Straftätern führen.

Die Polizei bietet gefährdeten und von Straftaten betroffenen Personen Schutz und Unterstützung. Sie ist für Personen aus allen gesellschaftlichen Gruppen ansprechbar und zur Verständigung mit ihnen fähig. Ihr Einschreiten ist soweit wie möglich von Deeskalations- und Konfliktlösungsorientierung bestimmt.

Nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit orientiert sie sich am Grundsatz: „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“. Sie unterbindet durch ihre Stärke und Präsenz sowie das Vertrauen der Bevölkerung das Entstehen konkurrierender Sicherheitsstrukturen und -kräfte.

Die Stärken der Polizei sind sowohl ihre fachlich-technische als auch ihre soziale Kompetenz sowie ihr professionelles Verantwortungsbewusstsein. Sie besitzt und verteidigt das Monopol, bei Bedarf mit Gewalt einzuschreiten.

Polizeiliches Handeln im Rahmen des Strafverfahrens unterliegt der Leitung bzw. Kontrolle von Staatsanwaltschaft und Gericht.

Sachliche Kritik an polizeilichem Handeln und Einschreiten ist wünschenswert; sie darf nicht zu persönlichen Nachteilen führen. Dies gilt auch für Kritik an Gerichtsbarkeit und Strafvollzug.

Sollen die grund- und menschenrechtlichen Standards gewährleistet werden, brauchen Strafverfahren Zeit. Insofern dauert es, bis im Falle einer Verurteilung eine Strafe oder Maßnahme verhängt werden kann. Eine überlange Dauer von Strafverfahren hat jedoch Sanktionscharakter und beschädigt das gesellschaftliche
Grundvertrauen in eine funktionierende Strafrechtspflege.

Nach Möglichkeit sind bereits vor einer rechtskräftigen Verurteilung Reaktionen zu setzen sowie Alternativen zur Untersuchungshaft oder vorläufigen Anhaltung wie Sozialnetzkonferenz und Bewährungshilfe zu wählen.

Darüber hinaus sollen bei einer Untersuchungshaft oder vorläufigen Anhaltung notwendige Interventionen wie Therapien schon im Ermittlungsverfahren gesetzt werden, weil sie es dem Rechtsbrecher erleichtern können, rasch (wieder) Fuß zu fassen und die Entscheidungsgrundlage des Gerichtes auch bezüglich bedingter Nachsicht erweitern.

Freilich können aufgrund der Unschuldsvermutung solche Interventionen nur ein Angebot sein, dessen Ablehnung sich nicht nachteilig auf das Strafverfahren auswirken darf. 

An den Strafvollzug sind Resozialisierungsansprüche zu stellen, die jedoch nicht unrealistisch sein dürfen. Im Regelfall setzt Freiheitsentzug die Betroffenen unter psychischen Druck, nimmt ihnen die Möglichkeit, eigenständige Entscheidungen zu treffen, führt zur Einschränkung oder zum Verlust sozialer Kontakte und hemmt das berufliche Fortkommen. Deshalb sind positive persönliche Entwicklungen bei Gefangenen vor allem bei besonderen Förderungsmaßnahmen zu erwarten.

Insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen – sofern sich der Strafvollzug als unumgänglich erweist – sind Ausbildungsmöglichkeiten und Angebote sozialen Lernens durch geeignete Tagesstruktur unter fachkundiger sozialpädagogischer Anleitung erforderlich.

Strafvollzug wirkt vor allem dann sozialisierend, wenn Vollzugslockerungen und alternative Formen des Freiheitsentzugs jenseits der geschlossenen Anstaltsunterbringung zum Einsatz kommen. Neben dem weiteren Ausbau des Erfolgsmodells des elektronisch überwachten Hausarrests bedarf es auch flexiblerer
Formen wie Nacht- und Wochenendvollzug, um die erwähnten Ziele zu erreichen.

Zwischen Straf- und Maßnahmenvollzug ist eine strikte Trennung zu gewährleisten. Weiters muss die Schnittstellenarbeit zwischen Strafvollzug, Justiz und Nachbetreuungseinrichtungen ausgebaut und intensiviert werden.

Um den Strafvollzug weiter zu professionalisieren und menschengerechter zu gestalten, sollen Leitbilder für den Vollzug und die dort tätigen Berufsgruppen entwickelt werden und ihre Ziele durch gute Leitung und Führung umgesetzt werden. Die strategische Steuerung des Strafvollzugs durch das BM für Justiz ist mit
weitgehenden operativen Entscheidungskompetenzen der Anstaltsleiter zu
verknüpfen.

Sicherheit für alle Menschen im Strafvollzug entsteht, wie auch erfolgreiche ausländische Beispiele zeigen, vor allem durch intensive Betreuung und angemessene bauliche und technische Vorkehrungen. Ein vernünftiger Betreuungsschlüssel, also der Einsatz gut qualifizierten Personals in ausreichender Anzahl, ist zu gewährleisten.