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Erklärung des Netzwerks Kriminalpolitik zum Strafmündigkeitsalter

Eine Langzeitbetrachtung lässt in zumeist größeren Abständen eine kurzfristige Häufung bestimmter aufsehenerregender Straftaten erkennen. Die Erfahrung zeigt, dass diese in aller Regel keine langfristigen Trends darstellen. Formen der Empörung und Rufe nach raschen Reaktionen und Eingriffen sind zwar verständlich, eine vernünftige Strafrechtspolitik analysiert jedoch sorgfältig nationale und internationale Entwicklungen und stützt Reformen auf Evidenzbasierung sowie wissenschaftliche und fachliche Expertisen.

Österreich und europa

  • In Österreich liegt die Strafmündigkeit seit 1929 bei 14 Jahren. Dieses Alter hat sich bewährt, zumal unter dieser Altersgrenze Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe sowie des Zivilrechts problematische Kinder in dieser schwierigen Phase unterstützen können. Hier werden keine juristischen Strafansätze verfolgt, sondern pädagogisch-psychologische Unterstützungsmaßnahmen gesetzt.
  • In den meisten Ländern der Europäischen Union liegt die Grenze zur Strafmündigkeit ebenfalls bei 14 bis 15 Jahren, mit sozialen Jugendhilfemaßnahmen unter dieser Grenze.
  • Die Strafmündigkeit ab zehn Jahren in der Schweiz ist von einem konsequent erzieherischen Ansatz geprägt. Unterbringungen können bei Einzelpersonen oder in sozialpädagogisch/therapeutischen Einrichtungen erfolgen. Diese haben den Charakter von Wohngemeinschaften und können unter sehr engen Voraussetzungen auch geschlossen sein. Hier verfolgt die Justiz keinen Strafansatz, sondern einen pädagogisch-psychologischen Ansatz.
  • Ähnliches gilt für die Niederlande, wo die Altersgrenze zwölf Jahre beträgt.
  • Die schweizerische Skepsis gegenüber Freiheitsentzug als Strafe zeigt sich auch darin, dass bei Jugendlichen über 15 Jahre der Freiheitsentzug maximal ein Jahr dauern darf (in Österreich zehn Jahre), bei über 16-Jährigen höchstens vier Jahre (in Österreich 15 Jahre).
  • Ein 2020 vom österreichischen Nationalrat beschlossener Entschließungsantrag beinhaltet, dass weltweit eine niedrigere Strafmündigkeit als 14 Jahre menschenrechtlich nicht vertretbar sei.

Die Delinquenz von Kindern in Österreich zeigt folgende Entwicklung:

  • Die Anzahl der angezeigten namentlich bekannten Unmündigen ist laut polizeilicher Anzeigestatistik seit 2012 von 6.203 auf 10.428 im Jahr 2022 gestiegen.
  • Im Jahr 2023 zeigt sich folgende Entwicklung: Der Anteil der Kinder und Jugendlichen an den ermittelten Tatverdächtigen ist laut polizeilicher Anzeigenstatistik im Jahr 2023 um 10 % von 14,7 % auf 13,4 % gesunken.
  • Ob die angezeigten Unmündigen die entsprechenden Taten tatsächlich begangen haben, wird nicht überprüft.
  • Diese Zahlen lassen nicht auf einen tatsächlichen Anstieg von schweren Straftaten bei Unmündigen schließen. Die Verurteilungszahlen bei Jugendlichen sind seit 1975 bei stetig steigender Anzeigenzahl sukzessive zurückgegangen. Hätte es bei dieser Altersgruppe in den letzten Jahrzehnten irgendwann einen nachhaltigen Anstieg bei schwerwiegenden Taten gegeben, wären auch entsprechende Verurteilungen die Folge gewesen. Es ist nicht belegt, dass die Entwicklung bei den Unmündigen, bei denen es nur Anzeigen- und keine Verurteilungsstatistik gibt, eine andere wäre.
  • Die Anzeigenzahlen steigen insgesamt, nicht nur bei Unmündigen. Sie sind in Relation zu setzen zu den steigenden Bevölkerungszahlen (allein in Wien ist laut Statistik Austria die Bevölkerungsgruppe der 10-13jährigen von 62.854 im Jahr 2013 auf 74.303 im Jahr 2023 gestiegen). Sie steigen aufgrund erhöhter Anzeigebereitschaft im Allgemeinen, aufgrund von Sensibilisierung in Kindergärten, Schulen und Wohneinrichtungen, sowie wegen wertvollerem Besitz bei Kindern (insbesondere Mobiltelefone) und den bestehenden Versicherungen (Anzeige für Schadensmeldung notwendig).

Das Netzwerk Kriminalpolitik bezieht folgende Position:

  • Das Strafrecht mit seinen auf Bestrafung orientierten Mitteln ist kein geeignetes Instrument, um auf Delikte zu reagieren, die unter 14-Jährige begangen haben. Das Strafverfahren ist ein formales Verfahren, in dem es um den Nachweis der Schuld geht. Die Suche nach Sanktionsalternativen ist nicht das primäre Verfahrensziel. Eine intensive Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Tat und der Lebenssituation von Kindern kann im Strafverfahren nicht geleistet werden. Genau das braucht es aber.

  • Gefängnisse sind der denkbar schlechteste Ort für Kinder. Diese Reaktion auf Devianz muss für Kinder ausgeschlossen bleiben. Alle anderen Reaktionen erfordern nicht die Strafmündigkeit und könnten auch im Bereich von Jugendhilfe und/oder Zivilrecht geregelt werden.

  • Es existiert kein belastbarer Nachweis, dass Strafandrohungen eine generalpräventive Wirkung entfalten. Dies trifft nicht nur für Erwachsene zu. Kinder berücksichtigen mögliche Konsequenzen ihrer Handlungen noch viel weniger. Dementsprechend weisen kriminologische Studien auch nach, dass ein Absenken der Strafmündigkeit nicht zu einer Abnahme von Delikten junger Menschen führt.

  • Es braucht einen bundesweit einheitlichen Katalog an wirksamen Maßnahmen im Bereich des Jugendhilfe- und Zivilrechts für die Altersgruppe der 10- bis 13-Jährigen, insbesondere bei den 12- und 13-Jährigen. Ein solcher Maßnahmenkatalog ist dringend unter Beteiligung aller Bundesländer zu erarbeiten.

  • Unabhängig vom Alter der Rechtsbrecher*innen und der Art der staatlichen Reaktion auf ihr Verhalten gilt es, den Opfern die erforderliche Opferhilfe zukommen zu lassen.

Ansprechpartner:
Dr. Bernhard Fink, ÖRAK, 01/535 12 75-0, fink@finkundpartner.at, 0463/54146
Mag. Daniel Schmitzberger, Richter:innenvereinigung Fachgruppe Jugendstrafrecht, daniel.schmitzberger@justiz.gv.at, 0676/898924094

Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter
Österreichischer Rechtsanwaltskammertag
Vereinigung österreichischer StrafverteidigerInnen
WEISSER RING
NEUSTART
Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie der Universität Innsbruck
Univ.Prof. Dr. Alois Birklbauer, Institut für Strafrechtswissenschaften, JKU Linz
Univ.Prof. Dr. Christian Grafl, Institut für Strafrecht und Kriminologie, Universität Wien

Über die/den Autor:in

Thomas Marecek leitet die Kommunikation bei NEUSTART

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