Wenn jedes Unbehagen zur Diagnose wird

In den letzten Jahren hat sich in unserer Alltagssprache etwas verändert: Begriffe, die ursprünglich aus der Psychologie stammen, tauchen immer häufiger in Gesprächen, Artikel oder Social-Media-Posts auf. Was einst Fachtermini waren, ist bzw. erscheint heute als Allgemeingut. Dabei werden diese – ich denke das kann man gut sagen – oft sehr großzügig in der Interpretation verwendet.

Wörter wie „traumatisiert“, „Mobbing“, „Trigger“ oder „toxisch“ sind dadurch längst nicht mehr auf den klinischen Kontext beschränkt, sondern dienen dazu, Erlebnisse und Gefühle zu beschreiben, die zumeist gar nicht in diese Kategorien gehören.

Auf den ersten Blick wirkt diese Entwicklung sogar positiv. Sie zeigt, dass psychische Themen nicht länger tabuisiert werden, sondern Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs gefunden haben. Doch zugleich liegt in dieser – aus meiner Sicht – Überpsychologisierung ein Problem. Wenn große Worte und Begrifflichkeiten für jede (kleine) Irritation herhalten müssen, verlieren sie ihre Schärfe und Zielgenauigkeit. Das hat Folgen sowohl für Betroffene, die tatsächlich schwer belastete sind, als auch im den Umgang und die Kommunikation miteinander.

Noch deutlicher wird die Bedeutungsverschiebung beim Wort „Toxisch“. Was einst als Metapher für schädigende Beziehungen/Beziehungsdynamiken begann, ist inzwischen eher ein Etikett, das auf fast alles geklebt werden kann

Beispiele anhand der Begriffe Trauma, Mobbing und Triggern

Beispiel anhand des Begriffes „Trauma“: Damit bezeichnet man in der Fachsprache eine tiefe seelische Verletzung, ausgelöst durch extreme persönliche Ereignisse und Erfahrungen wie Gewalt oder Krieg. Heute hört man Sätze wie „Ich war traumatisiert, weil mein Lieblingslokal geschlossen hatte“. Was als vielleicht als scherzhafte Übertreibung gemeint sein mag (aber auch vollkommen ernst von der aussprechenden Person), verschiebt unbemerkt und subtil die Bedeutung. Die Schwere des Begriffs wird banalisiert und gleichzeitig das eigene Unbehagen oder Unwohlsein überhöht.

Ähnlich verhält es sich mit dem Wort „Mobbing“. Genau genommen geht es dabei ums systematisches, wiederholtes ausgrenzen und herabwürdigen – ein destruktiver Prozess, der Betroffene ernsthaft in ihrer psychischen und physischen Integrität gefährdet. Im Alltag hingegen genügt oft schon eine einmalige Kränkung oder Konflikt, um von „Mobbing“ zu sprechen. Damit wird das Leiden derjenigen, die tatsächlich über Wochen, Monate bis Jahre hinweg angegriffen werden, unsichtbarer.

Auch das vielzitierte „Triggern“ hat eine große Karriere gemacht. Ursprünglich beschrieb der Begriff Reize, die bei Traumatisierten Flashbacks auslösen können. Heute steht ein „getriggert sein“ häufig für nichts anderes als „Das hat mich verletzt“ oder „Das hat mich geärgert“. So wird die Tendenz gefördert, jede persönliche Irritation oder Ärger als pathologisch zu kennzeichnen – und zugleich eine Erwartungshaltung zu schaffen, dass möglichst viele Themen mit Triggerwarnungen versehen werden, um sich nicht mit eigenen negativen Gefühlen auseinandersetzen zu müssen. Dadurch werden vermehrt schwierige Inhalte gemieden, anstatt dass wir lernen konstruktiv damit umzugehen – was erst recht zu einer persönlichen Überforderung führen kann.

Noch deutlicher wird die Bedeutungsverschiebung beim Wort „Toxisch“. Was einst als Metapher für schädigende Beziehungen/Beziehungsdynamiken begann, ist inzwischen eher ein Etikett, das auf fast alles geklebt werden kann: auf Kolleg:innen, Vorgesetzte, Familienstrukturen oder gar die ganze Gesellschaft. Der Begriff labelt und ersetzt die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Verhalten von einzelnen Personen durch ein moralische Urteil, dass wenig bis keinen Handlungsspielraum mehr zulässt. Wer einmal so bezeichnet ist, gilt als grundsätzlich krankmachend und die verschiedenen Aspekte der Persönlichkeit werden, bzw. können nicht mehr gesehen werden – und sind es auch nicht mehr wert.

Während diese Entwicklung einerseits zeigt, dass psychisches Wohlbefinden einen steigenden Stellenwert in der Gesellschaft erhält, verschwimmen andererseits die Grenzen zwischen klinisch relevanten Belastungen und Alltagsbefindlichkeiten.

Sprache schafft Wirklichkeit

Wenn jede Unbehaglichkeit oder Unannehmlichkeit zu einer Diagnose (ohne die fachliche Kompetenz dahinter) wird, bleibt schlussendlich für das wirklich Pathologische weniger Raum. Und oft beobachte ich, dass die inflationäre Nutzung dieser Rhetorik dazu führt, dass Menschen Verantwortung für sich abgeben. Probleme erscheinen dadurch immer weniger lösbar, sondern sind quasi festgeschrieben und unabänderlich.

Es geht in keiner Weise darum, Gefühle kleinzureden, im Gegenteil: Wer sich verletzt, übergangen oder missverstanden fühlt, hat ein Recht, dass dies ernst- und wahrgenommen wird. Aber nicht jede negative Emotion braucht ein psychologisches Etikett.

Je bewusster wir Sprache einsetzen, desto klarer können wir unterscheiden: Hier handelt es sich um eine schwere, krankmachende Belastung, die professionelle Hilfe erfordert – und dort um eine (alltägliche) Herausforderung, die Teil des Lebens ist.

Sprache kann heilen oder verhärten. Sie kann Türen öffnen oder dieselben zuschlagen. Ob sie verbindet und Brücken baut, hängt nicht zuletzt davon ab, wie maßvoll und präzise wir mit ihren stärksten Begriffen umgehen.

Über die/den Autor:in

Leiter von NEUSTART Niederösterreich und Burgenland seit 2017. Zuvor Abteilungsleiter und Sozialarbeiter, im Schwerpunkt tätig in der Bewährungshilfe, Haftentlassenenhilfe und Anti-Gewalt-Training.
Nebenberuflicher Lektor an der der FH St. Pölten für „Devianz und Strafrecht“. Referent für Gewaltarbeit und (De-)Radikalisierung.
Vor NEUSTART als Flüchtlingsberater, Outplacer und Schulsozialarbeiter beschäftigt.

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