Jetzt ist es schon zwei Jahre her, aber wofür er angezeigt wurde, weiß Angelo noch genau. Der 19-Jährige zückt sein Smartphone. Er ist gefasst, wenn er von damals spricht. Sein Gesicht verrät keine Regung, seine Stimme ist neutral. Fast so, als ginge es um jemand anderen. Doch er war es, der seiner Freundin ein Passwort verraten hatte, in einer durchzechten Nacht. Sie loggte sich damit in die Cloud seiner Ex-Freundin ein, fand dort ein Sexvideo von ihr, lud es herunter und schickte es weiter. Später begann die Polizei gegen ihn zu ermitteln. „Widerrechtlicher Zugriff auf ein Computersystem“, liest er vor. „Missbrauch von Computerprogrammen oder Zugangsdaten. Sexualbezogene Darstellungen Minderjähriger.“ Alles Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch, auf die mitunter Gefängnis steht.
So wie Angelo, dessen Name für diesen Artikel geändert wurde, ergeht es vielen Jugendlichen, deren Leben sich zunehmend im Internet abspielt, wo sie mit Strafnormen in Konflikt kommen, von denen sie meist noch nie gehört haben. Sie und andere bekommen in der Bewährungshilfe die Chance, sich mit ihrem Delikt und den Folgen ihrer Tat auseinanderzusetzen, um weitere Straftaten zu vermeiden. Auch beim Thema Radikalisierung und Hasskriminalität sorgen online gesetzte Taten für steigende Fallzahlen bei NEUSTART. Was lässt sich daraus ableiten, welche Rolle spielt die zunehmende Polarisierung in sozialen Medien und welche Herausforderungen sind zu erwarten?
Tatort digitale Räume
Eine Entwicklung scheint klar: Das Leben wird digitaler – und immer mehr Verbrechen finden im Netz statt. Die Internetkriminalität hat sich seit 2019 mehr als verdoppelt. 2023 meldete der Cybercrime-Report der Polizei 65.864 angezeigte Delikte. Dabei geht es meist um Betrug und organisierte Kriminalität. Etwas anderes sind Delikte, die nicht klar der digitalen Welt zugeordnet werden können, aber vermutlich zu einem großen Teil dort stattfinden: die Verbreitung von Missbrauchsmaterial Minderjähriger, Erpressung, Mobbing, Stalking, sexuelle Belästigung, Verhetzung, die Teilnahme an einer terroristischen Vereinigung oder Wiederbetätigung (siehe Glossar).
Wenn man sich die Polizeistatistik zu den jeweiligen Delikten ansieht, fällt vor allem ein Wachstum in drei Bereichen auf. So sind von 2019 bis 2023 die Anzeigen wegen Besitz oder Verbreitung von Kindesmissbrauchsdarstellungen (§ 207a StGB) von 1.666 auf 2.245 gestiegen (+ 34,7 %), die Anzeigen wegen Erpressung und schwerer Erpressung (§ 144, 145 StGB) von 1.958 auf 3.891 (+ 98,7 %) und wegen der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung (§ 278b StGB) von 44 auf 67 (+ 52 %). Ein Blick auf die Zahl der rechtskräftigen Verurteilungen relativiert dieses starke Wachstum allerdings: So stieg die Anzahl der nach § 207a verurteilten Delikte (Kindesmissbrauchsdarstellungen) von 2019 bis 2023 um nur 4,2 % an, nach § 278b (Terroristische Vereinigung) um 6,9 %. Nach § 144/145 (Erpressungen) sank die Zahl sogar um 10,9 %. Das zeigt, dass nicht alle angezeigten Fälle zu Verurteilungen führen und dass auch bei einem Anstieg der Anzeigen nicht immer eine entsprechende Zunahme an Verurteilungen erfolgt.
"Es ist die erste Generation, die sich dadurch Probleme einhandelt, es fehlen Erfahrungswerte bei Eltern und Obsorgeberechtigten."

Sexting und § 207a StGB
Beim Thema Kindesmissbrauchs-darstellungen fällt auf, dass rund die Hälfte der Tatverdächtigen selbst noch minderjährig ist. Der Grund, warum sie ins Visier der Behörden geraten, heißt „Sexting“ – das Anfertigen und Weiterschicken sexuellen Materials, mittlerweile gängige Praxis unter Heranwachsenden. Die entdeckten Fälle sind meist nur „Beifang“, also Zufallsfunde im Zuge von Ermittlungen wegen anderer Paragrafen. Es handelt sich um die Spitze des Eisbergs, denn Pornografie und Darstellungen mit sexuellem Inhalt sind längst Teil des
Lebens junger Menschen geworden, die bestimmt nicht pädophil sind. Es ist die erste Generation, die sich dadurch Probleme einhandelt, es fehlen Erfahrungswerte bei Eltern und Obsorgeberechtigten. Umso schlimmer das Erwachen, wenn plötzlich die Polizei ermittelt. Im Fall von Angelo aufgrund der Anzeige einer Person, die auf dem Sexvideo zu sehen war, das seine Freundin verbreitete. Ihm drohte ein Strafverfahren wegen sexualbezogener Darstellungen minderjähriger Personen (§ 207a StGB) und des Missbrauchs von Zugangsdaten (§ 126c StGB). Ein Schock für den Lehrling. Seine Rettung war, dass die Staatsanwaltschaft ihm eine Diversion anbot – in Angelos Fall eine Probezeit mit Bewährungshilfe. Wenn Jugendliche aufgrund solcher Delikte zugewiesen werden, kommt das Programm „sicher.net § 207a“ von NEUSTART zur Anwendung. Dieses Programm dauert sechs Monate. Danach berichten die Bewährungshelfer:innen der Staatsanwaltschaft über die Betreuung, und die Staatsanwaltschaft kann das Verfahren einstellen.
"Das war extrem toll. Ich konnte mich öffnen und habe mich durchgehend wohlgefühlt."
Mehr Aufklärung und digitale Bildung
Das Programm „sicher.net § 207a“ schafft Unrechtbewusstsein und beugt künftiger Straffälligkeit besser vor als eine Verurteilung als Sexualstraftäter:in. 127 Klient:innen wurden 2024 in diesem Programm betreut, davon nur drei Mädchen. Fast alle wussten nicht, dass ihre Taten strafbar sind, und die wenigsten erkannten, was sie den Opfern antaten. Die positive Wirkung der Bewährungshilfe ist dementsprechend hoch. In Gruppenkursen geht es um Medienkompetenz, den richtigen Umgang mit Pornografie, die Aufklärung über Normen und eine Auseinandersetzung mit den Opfern.
„Das war extrem toll“, schildert Angelo seine Erfahrung. „Ich konnte mich öffnen und habe mich durchgehend wohlgefühlt.“ Obwohl er selbst „nur“ ein Passwort weitergegeben habe, habe er seine Schuld rasch eingesehen, weil er alles ins Rollen gebracht habe. Es ist beeindruckend, wie gut er das verarbeitet hat. Was er im Kurs hörte, sei nicht schwer verständlich gewesen, sondern logisch: „Wenn man allerdings noch nie gehört hat, dass etwas verboten ist, ist doch klar, dass irgendwann etwas passiert.“ Frühe Aufklärung sei deshalb wichtiger denn je, betont Susanne Pekler, Leiterin von NEUSTART Steiermark. Besonders gefragt seien Schulen, denn: „Ein Großteil der Eltern versteht die Gefahren des Internets nicht und hat keine Ahnung, wie leicht etwa der Zugang zu pornografischem Material ist. Da sollte die Gesellschaft in allen Facetten lernen, besser damit umzugehen. Es braucht mehr digitale Bildung bei Kindern und Jugendlichen.“ Um das Risiko digitaler Kriminalität Jugendlicher zu verringern, sei auch ein neues Problembewusstsein der Eltern gefragt.

Prävention durch Information
Junge Menschen, das war früher nicht anders, machen Mutproben, behandeln andere manchmal schlecht und überschreiten Grenzen, nur dass sie das heute öfter online
machen. Laut einer Umfrage von Saferinternet.at waren 38 Prozent der Jugendlichen bereits mindestens einmal mit Formen sexueller Belästigung im Internet konfrontiert. Insgesamt habe die Online-Belästigung aber nicht zugenommen, sondern sei nur vielfältiger geworden, sagt die pädagogische Leiterin von Saferinternet.at, Barbara Buchegger. Auch sie empfiehlt mehr Aufklärung. Digitale Bildung und Medienbildung stehen zwar im Ausmaß einer Wochenstunde im Lehrplan der Sekundarstufe der 10- bis 14-Jährigen, aber oft beschränke sich das auf den technischen Umgang mit Geräten, sagt Buchegger. Hier müsse man nicht die Lehrpläne ändern, sondern die Praxis, denn die allermeisten Kinder bekämen zuhause nicht die Begleitung, die sie bräuchten. „Diese Kinder sind definitiv nicht gut auf das
digitale Leben vorbereitet. Vor allem die Präventionsarbeit, also zu verhindern, dass jemand zum Täter wird, ist sehr, sehr ausbaufähig. Wenn jeder 14-Jährige einmal von Paragraf 207a oder dem Verbotsgesetz gehört hätte, ließe es sich verhindern, dass sich Jugendliche kriminalisieren, ohne es mitzukriegen.“ Andere Bereiche, wo junge Menschen zum Opfer Erwachsener werden, etwa beim „Cybergrooming“ (siehe Glossar), sind schwer zu beziffern. Auch hier erleichtern die technischen Möglichkeiten den Missbrauch.
Dem Hass den Dialog entgegensetzen
Ein zweites NEUSTART Programm, das seit 2018 läuft, heißt „Dialog statt Hass“. Mobbing, Stalking, Drohungen, Hassreden oder Verstöße gegen das Verbotsgesetz werden verstärkt digital ausgeübt. Die Hemmschwelle dafür ist im Netz niedriger, insbesondere in den sozialen Medien. Waren die meisten beim Start des Programms betreuten Klient:innen noch zwischen 40 und 60 Jahre alt, ist heute der Großteil zwischen 14 und 21. Auch hier empfiehlt sich, möglichst früh gegenzusteuern. „Grundsätzlich geht es darum, das Demokratiebewusstsein und das Miteinander zu stärken“, sagt Stephanie Mayerhofer, Koordinatorin für Extremismusprävention bei NEUSTART. „Da geht es auch um Medienkompetenz, darum, Fakten von Mythen unterscheiden zu können, den Unterschied zwischen Meinungs- und Redefreiheit zu kennen. Ein breites Feld, aber hier müssen wir mehr tun.“ Auch Plattformen, die Hassverbreitung ermöglichen, müssten in die Pflicht genommen werden. Die rechtlichen Voraussetzungen gibt es mit dem Digital Services Act der EU bereits.
Die Gefahr der Online-Radikalisierung
Beim Anstieg digitaler Delikte spiele auch die Online-Radikalisierung eine wichtige Rolle, so Mayerhofer: „Emotionen werden als Mittel zur Mobilisierung verwendet. Dadurch werden ein Gefühl von Zugehörigkeit sowie eine mögliche Selbstaufwertung suggeriert. Das macht es so spannend und gefährlich.“ Hier kommt der Sog der sozialen Medien ins Spiel, die Mobilisierung von Menschen für antidemokratische Propaganda. Das Internet – speziell die Plattform TikTok – spielt längst eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung potenzieller Extremist:innen. Wenn jemand tatsächlich zu einer Waffe greift, um zu morden, ist das der Extremfall. Es braucht aber nicht viel, um in den bloßen Verdacht der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung zu geraten. Eine Dschihad-Fahne? Die Rede eines Hasspredigers? Schon das Posten genügt. Aktuelle Krisen wie der Gaza-Konflikt erhöhen den Zulauf zu islamistischen und antisemitischen Ideologien, auch in Österreich und der EU. Die Bewährungshilfe kann in diesen Fällen besonders herausfordernd sein, vor allem wenn eine verfestigte Ideologie im Hintergrund steht. Was es insgesamt bräuchte, ist eine Versachlichung der Gespräche, mehr Miteinander statt Gegeneinander. Kein leichtes Unterfangen, das dem Zeitgeist zuwiderläuft.

Beim Versuch, die Debattentemperatur zu senken, hilft es auch nicht weiter, dass zum Beispiel die Anwältin, die einen 14-Jährigen vertritt, der einen Anschlag auf den Wiener Westbahnhof geplant haben soll, nun selbst Morddrohungen erhält, wie sie der Stadtzeitung „Falter“ erzählte. Wo bleiben die Mäßigung und das Vertrauen in die Justiz? Rund um das Thema sind ein Stück weit alle gefragt, denn die Gesellschaft und der Rechtsstaat sind letzten Endes wir alle.
Angelo will jetzt nur noch eines: auf dem richtigen Weg bleiben und beruflich erfolgreich sein. Er schämt sich nicht für das, was passiert ist. Es sei einfach unnötig dumm gewesen, sagt er. Da ihm eine Verurteilung nach Paragraf 207a erspart blieb – sein Verfahren wurde eingestellt –, ist er nicht vorbestraft. Kein:e Arbeitgeber:in wird ihn jemals mit Kindesmissbrauch in Verbindung bringen. Das bestärkt ihn. Das gibt Zuversicht. Im Bekanntenkreis gibt er jetzt seine Erfahrungen weiter und ist sogar zu einer Art Multiplikator geworden. „An einen Satz denke ich oft“, sagt er: „Alles, was im Internet passiert, bleibt im Internet. Daran sollten die Leute denken.“ Angelo hat seine Lektion gelernt – und mehr als das.
Glossar
Kindesmissbrauchsmaterial
Der Besitz und die Verbreitung sexualbezogener Bilder von unter 18-Jährigen. Ausgenommen ist nur der einvernehmliche Austausch von Nacktbildern (Sexting) zwischen zwei Jugendlichen ab 14 Jahren (§ 207a StGB).
Verhetzung
Der Aufruf zu Hass oder Gewalt, Beschimpfungen, Leugnen von Völkermord sowie das öffentliche Verfügbarmachen von verhetzendem schriftlichen Material, Bildern oder anderen Darstellungen (§ 283 StGB).
Wiederbetätigung
Betätigung im nationalsozialistischen Sinne nach dem Verbotsgesetz, etwa durch das Posten und Verbreiten von Nazi-Symbolen (Art. 1 § 3g VbtG).
Sextortion
Der Begriff setzt sich aus „Sex“ und „Extortion“ zusammen. Er bezeichnet eine Methode, bei der eine Person mit Bild- und Videomaterial, das sie beim Vornehmen sexueller Handlungen oder nackt zeigt, erpresst wird. Fällt unter Erpressung und schwere Erpressung (§ 144, 145 StGB).
Cybermobbing
Die fortdauernde Belästigung im Wege einer Telekommunikation oder eines Computersystems. Die Opfer werden bloßgestellt, ausgegrenzt und beleidigt. Die Inhalte verbreiten sich schnell und sind schwer zu entfernen. Außerdem können Täter:innen anonym agieren (§ 107c StGB).
Cybergrooming
Erwachsene erschleichen sich im Internet das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen, um sie sexuell zu belästigen oder zu missbrauchen. Sie bahnen Sexualkontakte zu Unmündigen an (§ 208a StGB).
Cyberstalking
Eine Person wird andauernd online belästigt und beharrlich verfolgt. Das kann öffentlich oder durch Privatnachrichten, am Telefon oder in sozialen Netzwerken passieren (§ 107a StGB).
Terrorismus
Die Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung (§ 278 b StGB). Dafür reicht oft schon das Posten von einschlägigem Material.
Wohin wenden bei Problemen?
Wo Sie Hilfe bekommen und illegale Inhalte melden können.
Medienbildung und Workshops für Schulen und Jugendeinrichtungen, plus Online-Infos.
Der Verein ZARA betreibt Beratungsstellen für Opfer und Zeug:innen von Rassismus sowie für Betroffene von Online-Hass und -Hetze.
Meldeplattform für sexuelle Missbrauchs-darstellungen Minderjähriger und national-sozialistische Wiederbetätigung.
Die Notrufnummer „147 Rat auf Draht“ ist eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche mit Problemen. Hier können sie auch illegale Online-Inhalte melden.
Das Start-up ist ein Beweissicherungstool für Hasspostings und Cybermobbing im Internet.
Eine Anti-Hassposting-App mit dem Ziel, das Melden von Postings auf Social Media zu vereinfachen, diese auf Straftatbestände zu prüfen und sie ggf. zur Anzeige zu bringen.