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#TeamNEUSTART: Georg Wieländer

Georg Wieländer tritt im März 2024, nach mehr als 41 Jahren bei NEUSTART, seinen Ruhestand an. Er hat während seiner beruflichen Laufbahn unsere Vereinsgeschichte mitgelebt und mitgeprägt…

Bitte stell dich kurz vor, als was arbeitest du derzeit bei NEUSTART?
Ich bin 62 Jahre alt, in Wien geboren und aufgewachsen. Ich war 40 Jahre lang als Sozialarbeiter bei NEUSTART, damals noch Verein für Bewährungshilfe und Soziale Arbeit (VBSA), tätig. Ich habe in dieser Zeit als Bewährungshelfer und Mediator im Tatausgleich, sowie als Koordinator bei Sozialnetzkonferenzen und als psychosozialer Prozessbegleiter gearbeitet. Von den restlichen neun Bundesbediensteten bin ich nun der letzte Beamte in Wien, der in den Ruhestand geht.

Wann genau hast du bei NEUSTART begonnen und wie hat dich dein beruflicher Weg zu dieser Aufgabe geführt?
Mein Start bei NEUSTART war im Herbst 1982. Damals durfte ich als Zivildiener meine ersten Schritte in der Sozialarbeit machen. Von den „Pionier:innen der Bewährungshilfe“ konnte ich viel lernen aber dennoch meinen eigenen Weg in die Praxis entwickeln. Im Februar 1983 begann ich mit knapp über 21 Jahren als ehrenamtlicher, im Oktober 1983 als hauptamtlicher Bewährungshelfer mit der eigenständigen Fallarbeit.

Warum hast du dich für NEUSTART als Arbeitgeber entschieden?
Die guten Arbeitsbedingungen beim VBSA, vom überdurchschnittlichen Gehalt bis zur freien Arbeitszeiteinteilung, galten damals als beispiellos im gesamten Sozialbereich. Außerdem hat mich der methodische Ansatz einer aufsuchenden Sozialarbeit angesprochen. Auch ohne vorher vereinbarten Termin, konnten Klient:innen in der wöchentlichen Sprechstunde vorbeischauen und das niederschwellige freizeitpädagogische Angebot – wie Tischtennis, Billiard und Tischfußball – in Anspruch nehmen. Meine Arbeit war spannend und geprägt von Hausbesuchen, wo ich meine Klient:innen in ihrer Lebenswelt aufspüren konnte.

In welchen Bereichen und Dienstleistungen hast du im Lauf der Jahre beim Verein gearbeitet. Was hat dir daran persönlich am besten gefallen und warum?
Meine drei wichtigsten Leistungsbereiche waren die Bewährungshilfe, der Tatausgleich und die Sozialnetzkonferenz (SONEKO).
Als Bewährungshelfer war ich der festen Überzeugung, dass nur eine jahrelange intensive Betreuung irgendeinen Grad an Veränderung bei meinen Klient:innen bewirken könnte. Der Aufbau einer belastbaren Betreuungsbeziehung mit einer Langzeitperspektive von mehreren Jahren bietet einmalige Chancen, gemeinsam mit Klient:innen ihr Fehlverhalten zu reflektieren, aber auch auf die Suche nach den verlorenen Ressourcen zu gehen. Ich hatte zudem die Gelegenheit, als Verbindungsdienst in Maßnahmenvollzugsanstalten hineinzuarbeiten und dort die Entlassungsvorbereitungen zu organisieren.
Im Tatausgleich bearbeitete ich in den letzten 25 Jahren geschätzte 3.500 Fälle. Gemeinsam mit meinen Kolleg:innen Konfliktfälle in Form der Co-Mediation zu bearbeiten, ist für mich spannend und herausfordernd, weil es darauf ankommt, wie es uns als Mediator:innen-Team gelingen kann, mit den Klient:innen erfolgreich zu interagieren. Am Tatausgleich gefällt mir besonders, dass wir im Laufe der Zeit ein eigenes Tool an methodischen Zugängen erarbeitet haben.
Was die SONEKO betrifft, war die Teilnahme an der Projektentwicklung von 2012 bis 2014 für mich im Rückblick die spannendste Herausforderung meiner Berufskariere, aber natürlich auch die aufreibendste. Die Implementierung der SONEKO für den Haftkontext in der JGG-Novelle 2015 sowie der erste Preis bei der SozialMarie waren herzeigbare Erfolge. Die Intention einer Sozialnetzkonferenz sollte immer wieder aufs Neue sein, jugendlichen Klient:innen eine Chance zu ermöglichen, den „Turningpoint“ in ihrer kriminellen Karriere zu schaffen. Der Prozess der gemeinsamen Lösungsfindung der Jugendlichen mit ihrem Sozialen Netz in der „Sozialnetz.Exklusiv-Phase“ ist hierbei der entscheidende Faktor. Dieses gemeinsame Zusammensitzen und Problemlösen ist wichtig für die Jugendlichen. Die SONEKO hat hier noch ein enormes, zukünftiges Entwicklungspotential.

Was waren, seit deinem Einstieg bei NEUSTART, die prägendsten Entwicklungen?
Der Beginn der Diversion als sozialkonstruktive Maßnahme im Jahr 2000 war gar nicht so selbstverständlich, wie es heute den Anschein hat. Getragen von vielen Befürchtungen blies uns damals ein rauer Gegenwind von vielen Jurist:innen entgegen. Es bedurfte großer Anstrengung aller Beteiligten im Verein, Zuweiser:innen den Benefit einer erfolgreichen Konfliktregelung oder auch der Erbringung gemeinnütziger Leistungen darzustellen.
Auch die Zentralisierung in Wien, das Zurückziehen der Sozialarbeiter:innen in ihre zentral erreichbaren Büros und die Reduzierung von Außendiensten, ist mir als prägend in Erinnerung. Das erforderte eine radikale Änderung der Arbeitsstruktur. Inzwischen hat NEUSTART Wien fast 200 Mitarbeiter:innen, als ich begonnen habe, waren in meiner Außenstelle 15 Kolleg:innen beschäftigt.
Aus meiner Sicht stellte die Einführung der Gewaltpräventionsberatung im September 2021 den Verein NEUSTART vor die größte Veränderung in seiner gesamten Vereinsgeschichte. Das betrifft nicht nur die notwendig gewordene Neuaufnahme von Personal in kürzester Zeit, sondern auch eine völlige Neupositionierung im sozialarbeiterischen Zugang. Es bleibt herausfordernd, den Kurzzeit-Ansatz und pädagogischen Auftrag der Gewaltpräventionsberatung mit der Langzeitbetreuung in der Bewährungshilfe in Einklang zu bringen. Es wird oft unterschätzt, dass diese Umstellung für die Sozialarbeiter:innen einen radikalen Paradigmenwechsel darstellt.

Gibt es irgendeine Anekdote, einen besonderen Erfolg oder ein prägendes Erlebnis mit einem:r Klient:in, das dir aus deiner Zeit bei NEUSTART besonders in Erinnerung geblieben ist?
Es muss so 2014 gewesen sein, als mich ein, mir auf den ersten Blick unbekannter, Mann auf der Straße angesprochen und gefragt hat, ob ich der Herr Wieländer bin. Er outete sich als ehemaliger Klient in der Bewährungshilfe. Die Betreuung war schon 20 Jahre her und endete damals mit einer nicht so optimalen Prognostik. Er bedankte sich bei mir für alles, was ich damals für ihn getan hatte, und sagte mir, dass ich ihm die Ausbildung als Bautechnischer Zeichner ermöglicht hatte. Er arbeite noch immer in dieser Branche und hat sein Leben gut auf die Reihe gekriegt.

Wie findest du persönlich Ausgleich zu deinem Job?
Musik machen, ich spiele Schlagzeug und singe im Chor, in die Natur hinaus gehen und ein aufbauendes Privatleben pflegen. Ausgleich finde ich mit viel Kultur. Ich gehe gerne ins Theater und liebe es, in Jazzkonzerte – zum Beispiel ins „Porgy & Bess“ – zu gehen. Außerdem freue ich mich auf das eine oder das andere ausgedehnte Kaffeehausfrühstück in meinem baldigen Ruhestand.

Gibt es sonst noch etwas, das du mit deinen Kolleg:innen teilen möchtest?
Folgende Punkte empfinde ich als überlegenswert, um gut bei NEUSTART arbeiten zu können:
Erstens wäre wichtig, das „Dialogische Prinzip“ über das „Pädagogische Prinzip“ zu stellen:
Ich hoffe, dass der langjährige sozialarbeiterische Zugang der Bewährungshilfe nicht zu Gunsten von „Belehrung“ und „Erziehung“ unserer Klient:innen aufgegeben wird. Das würde in unserer gewohnten sozialarbeiterischen Haltung sehr Grundlegendes verändern. Zweitens: Achtsam bleiben, um nicht zu vereinsamen. In der Sozialarbeit tendieren wir dazu, alles allein schaffen zu müssen. Ich möchte die Notwendigkeit des gemeinsamen wöchentlichen fachlichen Austausches betonen. Wenn Zeit gekürzt wird, dann meist bei den Teamsitzungen. Es ist so wichtig, über die Fallbearbeitungen zu reden und den fachlichen Rat der Kolleg:innen einholen zu können. Auch sehr wichtig: dem HUMOR einen Raum geben! Ohne Lachen in der Arbeit geht gar nichts. Es gehört dazu, miteinander Spaß zu haben und gemeinsam zusammen zu sitzen. Außerdem: rechtzeitig auch „Nein“ sagen und Abschied nehmen vom eigenen Anspruch zum Perfektionismus. Weniger ist mehr! Belastungsgrenzen müssen verbalisiert werden. Zu guter Letzt: Wir dürfen stolz sein auf unsere Arbeit. Wir arbeiten oft unter größtem Zeitstress und fallweise ohne die nötigen Raum-Ressourcen und mit verkürzten Einschulungsphasen. Dennoch leisten wir Hervorragendes. „Das Glas ist immer halb voll, nie halb leer.“
Ich würde mich freuen, wenn ich auch im Ruhestand mit meinen Kolleg:innen und dem Verein in Kontakt bleiben kann – gerne als Fortbildner oder Moderator der einen oder anderen Veranstaltung.

Über die/den Autor:in

Laura Roth ist seit 2019 Teil des Kommunikations-Teams des Vereins NEUSTART. Ihre Schwerpunkte sind die interne Kommunikation und unsere Newsletter. In unserer Serie #TeamNEUSTART holt sie regelmäßig Kolleg:innen aus ganz Österreich vor den Vorhang

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