Schutz statt Strafe: Der Schweizer Weg im Jugendvollzug

Begehen Kinder oder Jugendliche in Österreich schwere Straftaten, ist der Aufschrei in klassischen wie sozialen Medien groß. Reflexartig werden politische Forderungen nach einer Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters auf zwölf Jahre laut und es wird auf die Schweiz verwiesen. Was aber kann Österreich tatsächlich vom Nachbarland lernen?

In der Schweiz gilt die Strafmündigkeit bereits ab zehn Jahren. Vergleicht man das mit Österreich, wo die Grenze bei 14 Jahren liegt, erscheint das sehr früh. Was die meisten jedoch nicht wissen: Unter 15-Jährige können in der Schweiz zu keiner Freiheitsstrafe verurteilt werden und selbst zwischen 15 und 16 Jahren zu maximal einem Jahr. Aber sie können ab zehn Jahren zu ihrem eigenen Schutz untergebracht werden – ganz unabhängig von einer Straftat. Dass sich der Schweizer Jugendvollzug somit grundsätzlich vom österreichischen unterscheidet – und zwar nicht nur im Hinblick auf das Alter der Strafmündigkeit –, davon konnten sich drei Kolleg:innen von NEUSTART im Oktober 2024 bei einem Studienbesuch ein Bild machen.

Platanenhof Blick Fenster geschlossener Bereich
Unterstützung – unabhängig vom Delikt

Das Schweizer Jugendstrafrecht ist konsequent vom Prinzip „Schutz vor Strafe“ geprägt. Es stellt nicht das Delikt in den Mittelpunkt, sondern die Jugendlichen und ihre Entwicklungsschritte. Natürlich müssen die Unterbringungen verhältnismäßig sein, und es gibt eine richterliche Kontrolle. Bei entsprechender Notwendigkeit können Kinder und Jugendliche auch ohne begangene Straftat in einer offenen oder geschlossenen Einrichtung untergebracht werden. Dafür zuständig ist die zivilrechtliche Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB). Die Jugendanwaltschaft wird erst tätig, wenn es tatsächlich zu einem Delikt gekommen ist. Die strafrechtlichen Maßnahmen unterscheiden sich dann aber nicht maßgeblich von jenen der zivilrechtlichen KESB. „In der Schweiz können junge Menschen, die sich in einer schwierigen Lebensphase befinden oder Delikte begehen, für einen bestimmten Zeitraum in eine geschlossene Institution wie ein Jugendheim oder eine Beobachtungsstation eingewiesen werden. Dort bekommen sie die Unterstützung, die sie benötigen, weil es in einem offeneren Setting nicht funktioniert“, sagt Patrik Killer, Leiter der Jugendanwaltschaft Zürich-Stadt und Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Jugendstrafrechtspflege. In Österreich gibt es solche Angebote und Möglichkeiten nicht: Es gibt nur das Gefängnis und keine Alternative.

Individuelle Lösungen dank unterschiedlicher Angebote

Beim Studienbesuch zeigte sich außerdem, dass viele der besuchten Einrichtungen sowohl zivil- als auch strafrechtlich untergebrachte Jugendliche aufnehmen. Auch in der inhaltlichen Betreuung wird nicht zwischen diesen beiden Gruppen unterschieden. Ihr Bedarf an Unterstützung wird unabhängig von einem Delikt festgestellt. Nur einzelne Einrichtungen sind speziell für strafrechtliche Maßnahmen bzw. zum Vollzug von Freiheitsstrafen vorgesehen. Auffallend ist, dass alle Einrichtungen unterschiedliche Angebote haben und somit individuelle Lösungen für delinquente Jugendliche gefunden werden können. Die Modellstation SOMOSA beispielsweise betreut und begleitet Jugendliche sowohl sozialpädagogisch als auch psychiatrisch. Das Jugendheim Schenkung Dapples hingegen ist rein sozialpädagogisch ausgerichtet. „Die Jugendanwaltschaften stehen in engem Kontakt mit den Institutionen, um ein gemeinsames Fallverständnis zu entwickeln. Das ist wichtig, um für die Jugendlichen ein optimales Setting zu schaffen, damit die gesteckten Ziele erreicht werden können“, so Killer.

Machen wir’s wie die Schweiz, oder?

Ganz so einfach ist es leider nicht. Auch die Schweiz stößt bei gewissen Kindern und Jugendlichen an ihre Grenzen. Durch die Vielzahl an unterschiedlichen ambulanten und stationären Settings passiert das allerdings deutlich seltener als in Österreich. Ganz unabhängig von der Diskussion über eine Senkung der Strafmündigkeit sollten wir uns also anschauen, welche sinnvollen Angebote und Einrichtungen die Schweiz hat, die in Österreich fehlen. Dem Prinzip „Schutz vor Strafe“ und dem österreichischen Rechtssystem folgend, erscheint es nicht sinnvoll, diese im strafrechtlichen Kontext anzusiedeln. Vielmehr braucht es zivilrechtliche Maßnahmen und Einrichtungen. Eine Senkung der Strafmündigkeit in Österreich ist sicherlich keine wertvolle Unterstützung für die weitere Entwicklung von straffälligen Jugendlichen.

Über die/den Autor:in
Kristin Henning

Leitung NEUSTART Tirol

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