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Jugend und Kriminalität

Auf Abwegen. Oder Umwegen?

Vorurteile versus Verurteilungen. Jugendliche und junge Erwachsene sind heute nicht mehr wie früher: Sie sind gewaltbereiter, krimineller und kennen keine Grenzen mehr. Soweit das Vorurteil. Die Zahl der Verurteilungen spricht eine andere Sprache. Wurden 2012 noch 4.358 Jugendliche verurteilt, waren es 2021 nur noch 3.004. Einen Anstieg gab es indessen bei den Anzeigen gegen Jugendliche.

Jugendkriminalität als Problem oder als Teil unserer Gesellschaft, der dazugehört, wie der Punkt am Satzende? Eine Analyse.


Erleichtert verlässt der 19-jährige David das Besprechungszimmer. Auch wenn er sich schon an die Bewährungshilfetermine gewöhnt hat, eine gewisse Anspannung begleitet ihn nach wie vor. Zum ersten Mal wurde der junge Steirer mit 17 Jahren wegen Ladendiebstahls verurteilt. Zwei Jahre später folgte Verurteilung Nummer zwei. Sein Delikt: Körperverletzung. David bekommt eine bedingte Strafe mit den Auflagen, ein Anti-Gewalt-Training zu besuchen und fünf Jahre Bewährungshilfe zu absolvieren. Der junge Mann hat schon oft gehört, dass er versagt habe. Jedes Gespräch mit Autoritätspersonen fällt ihm schwer, denn er rechnet mit Zurechtweisung und Ablehnung. Von seiner Bewährungshelferin hat David heute allerdings gehört, dass er auf dem richtigen Weg ist. „Die Lehre läuft gut“, sagt Davids Bewährungshelferin Nina Kreuzer, die in Kapfenberg als Sozialarbeiterin bei NEUSTART arbeitet. „Sorgen machen mir noch sein schwieriger Freundeskreis und der Suchtmittelkonsum.“

Mehr Anzeigen, weniger Verurteilungen


Diebstähle, Drogenmissbrauch und Körperverletzungen sind typische Delikte für jugendliche Straftäter:innen. Es gibt viele Teenager wie David. Der Eindruck, den manche Medienberichte erwecken, die Jugendkriminalität würde regelrecht explodieren, ist allerdings falsch. Richtig ist, dass es vermehrt zu Anzeigen kommt. Daniel Schmitzberger, Richter am Landesgericht Wien und Vorsitzender der Fachgruppe Jugendstrafrecht der Richter:innenvereinigung, führt das unter anderem auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft zurück. Gegen die These, die Jugendkriminalität würde stark steigen, spricht auch ein Blick in die Verurteilungsstatistik. Gab es im Jahr 2012 noch 4.358 Verurteilungen Jugendlicher, sank die Zahl bis 2021 auf 3.004 Verurteilungen. Während der Covid-Pandemie nahm zwar die Kriminalität in allen Altersgruppen ab, aber bereits im Jahr 2019 ist mit 3.724 Verurteilungen ein starker Rückgang im Vergleich zu 2012 zu verzeichnen.

Prävention statt Strafverschärfungen


Forderungen nach Strafverschärfung kann Schmitzberger nichts abgewinnen. „Die Höhe der Strafe schreckt Jugendliche nicht ab“, so der Richter. Auch eine Senkung der Strafmündigkeit hält er nicht für sinnvoll. Was es viel eher brauche, seien Investitionen in Sozialarbeit, Kinder- und Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bei dieser Forderung sind sich Richter und Psychiaterin einig. Auch Isabel Böge, Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Med Uni Graz, hält Strafverschärfungen oder ein Herabsetzen der Strafmündigkeit nicht für der Weisheit letzten Schluss. „Jugendliche, die kriminell werden, hinken oft in ihrer emotionalen Entwicklung und damit der Fähigkeit, nach sozialen Normen zu handeln, hinterher“, sagt Böge. „Man kann bei einem 14-Jährigen nicht davon ausgehen, dass er in einer Justizanstalt etwas lernt, außer noch mehr dissoziales Verhalten.“ Was es brauche, sei ein Ausbau der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit kassenfinanzierten Therapieplätzen, denn das Sinnvollste sei, präventiv tätig zu sein.

Ein „schwieriges Alter“


Was für die Medizin gilt, gilt auch für die Sozialarbeit. In Salzburg bietet NEUSTART Schulsozialarbeit an, um bei sozialen, schulischen und familiären Problemen professionell unterstützen zu können. Das hat gerade bei Pubertierenden auch kriminalitätspräventive Wirkung. „Im Alter von 14 bis 25 Jahren besteht das höchste Risiko, straffällig zu werden. Danach nimmt dieses Risiko stetig ab“, sagt Jürgen Kaiser, der den Bereich Sozialarbeit bei NEUSTART leitet.

„Junge Menschen müssen ihre Wirkung auf andere erst erfahren, was häufig mit Normverletzungen einhergeht. Durch ihre eingeschränkte Problemlösungsfähigkeit neigen sie zu einem unüberlegten Risikoverhalten. Belastende Ereignisse während dieser Zeit machen sie zusätzlich anfällig für Gesetzesübertretungen.“ Das Ausloten von Grenzen ist normal für diese Lebensphase, dass einige die Grenzen des Strafrechts überschreiten, ist ein Phänomen, das sich weltweit beobachten lässt. Ausschlaggebend dafür, ob sich Jugendliche sozial angepasst verhalten, ist unter anderem auch die Qualität der Bindungen zur Familie bzw. zu wichtigen Bezugspersonen, zur Schule und zu Peergruppen. Außerdem ist Jugendkriminalität – ebenfalls über Ländergrenzen hinweg – vorwiegend männlich. Es sind Burschen, die nicht nur weitaus mehr Straftaten verüben, sondern auch viel häufiger Opfer werden.

Nicht nur Alter oder Geschlecht sind ausschlaggebend für Straffälligkeit bei Jugendlichen. Kriminalität hat viele Ursachen. „Der letztendlichen Handlung liegt immer eine vorherige Entwicklung zugrunde“, sagt Isabel Böge. „Oft gab es in der Kindheit schon problematisches Verhalten oder es lag ein schwieriges soziales Milieu, wenig grenz- und haltgebende Erziehung vor. Es sind Jugendliche mit kaum prosozialen Freund:innen, die sich dann in dissozialen Gleichaltrigengruppen verorten, sodass die Gruppendynamik bei Taten eine Rolle spielt: Wer traut sich am meisten?“

 

Gewalt als Ursache für Kriminalität


Was Isabel Böge als Ursachen für Kriminalität schildert, hat David am eigenen Leib erfahren. Aufgewachsen ist er in einer großen Familie auf engstem Raum. „Ich wurde streng erzogen“, sagt der 19-Jährige.

Was harmlos klingt, bedeutete in der Realität: Schläge. David beginnt eine Lehre, scheitert aber in der Berufsschule. Zuhause fehlt ihm der Rückhalt, und im Freundeskreis werden exzessiv Alkohol und illegale Drogen konsumiert.

Gemeinsam mit Bewährungshelferin Nina Kreuzer setzt sich David jetzt intensiv mit seinem straffälligen­Verhalten auseinander. Das Anti-Gewalt-Training hat der 19-Jährige bereits abgeschlossen. „Das ist positiv“, sagt Kreuzer. „Trotzdem bin ich froh, ihn in der Bewährungshilfe noch gut im Blick zu haben.“

Kreuzer unterstützt ihren Klienten dabei, seine Existenz abzusichern, Änderungen in seinem Leben konsequent umzusetzen und motiviert ihn zu einem straffreien Leben.

„Ich bin froh David in der Bewährungshilfe gut im Blick zu haben“
Nina Kreuzer Bewährungshelferin

Balkendiagramm Anteil junger Menschen

Junges Klientel

 

Gerichte halten Bewährungshilfe bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen für besonders sinnvoll und ordnen sie daher bei sehr vielen bedingten Verurteilungen an.

Bei NEUSTART ist ein Drittel aller Bewährungshilfe-Klient:innen unter 21 Jahre alt, mehr als die Hälfte ist unter 30 Jahre.

Auch bei anderen Dienstleistungen von NEUSTART ist der Anteil junger Menschen vergleichsweise groß.

Oft bieten Staatsanwaltschaften oder Gerichte Jugendlichen eine diversionelle Erledigung der Strafsache an – etwa bei einem Tatausgleich.

Der Vorteil einer Diversion ist, dass sich die Beschuldigten mit ihrem Delikt auseinandersetzen müssen, aber nicht verurteilt werden. „Vorstrafen können nämlich eine große Hürde auf dem Weg zu einem Leben ohne Kriminalität sein“, sagt Jürgen Kaiser.

Ein guter Plan


Für Jugendliche und junge Erwachsene in Haft können Gerichte oder Justizanstalten Sozialnetzkonferenzen beauftragen: Sie bieten den Inhaftierten die Möglichkeit, gemeinsam mit ihrem sozialen Netz (Eltern, Freund:innen, Lehrer:innen etc.) einen verbindlichen schriftlichen Zukunftsplan zu erstellen. Denn ein guter Plan vermeidet Krisen und Kriminalität. Wenn aufgrund dieses Plans eine weitere Inhaftierung nicht mehr notwendig erscheint, erfolgt die Entlassung.
Eine Sozialnetzkonferenz war in Davids Fall nicht notwendig. An seinem Beispiel wird deutlich, was durch sozialarbeiterische Maßnahmen erreicht werden kann. Sozialarbeit ist keine Einbahnstraße, in der ausschließlich die Richtung zum Positiven eingeschlagen wird. Rückschläge und Rückfälle sind häufig scheinbar vorprogrammiert. Aber sie sind noch lange kein Grund, einem jungen Menschen wie David die Fähigkeit abzusprechen, das Ruder doch noch herumzureißen.

Über die/den Autor:in
Thomas Marecek

Thomas Marecek leitet die Kommunikation bei NEUSTART

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