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„Es sind zu viele da drin“

Damit brachte Jörg Kinzig, Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen, auf den Punkt, worin sich Vortragende und Podium bei der Veranstaltung des Netzwerks Kriminalpolitik zum Thema Maßnahmenvollzug einig waren: Die Zahl der Untergebrachten ist nach wie vor zu hoch.

Das Netzwerk Kriminalpolitik setzt sich aus Vertreter:innen von Justiz, Rechtsanwaltschaft, Sozialarbeit, Opfervertretung und Wissenschaft zusammen und hat in der Vergangenheit eine klare Positionierung erarbeitet, wie sozialkonstruktive Kriminalpolitik aussehen kann (Zehn Gebote guter Kriminalpolitik). Am vergangenen Montag lud das Netzwerk Expert:innen zur Veranstaltung „Maßnahmenvollzug: Systeme und Reformbedürftigkeit der Verwahrung“ in den Großen Festsaal des Obersten Gerichtshofs in Wien.

Die Krux mit der Prognose der Gefährlichkeit

Autorin und Journalistin Susan Boos aus Zürich berichtete in ihrem Eingangsreferat von ihren Erfahrungen während der Recherche zu ihrem Buch „Auge um Auge. Die Grenzen des präventiven Strafens“. Darin vergleicht sie die unterschiedlichen Systeme der Verwahrung in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden. Trotz unterschiedlicher Ansätze im Umgang mit straffällig gewordenen psychisch kranken Menschen stellt sich in allen Ländern die Frage: „Wie misst man Gefährlichkeit? Gerichte tun sich schwer damit, ihren eigenen Gutachter:innen bei der Prognose zu widersprechen.“

Das neue Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz

In Österreich verlangt das Gesetz die Befürchtung, dass die betreffende Person ohne Einweisung in ein forensisch-psychiatrisches Zentrum (früher: Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher) eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde. Und das mit hoher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft unter dem maßgeblichen Einfluss der psychischen Störung. Diese präzise Formulierung gibt das am 1. März 2023 in Kraft getretene Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz vor und ist Teil der Reform Maßnahmenrechts in Österreich. Dass die Änderungen große Auswirkungen auf die Einweisungspraxis der Gerichte haben werden, bezweifelt Andrea Concin, Rechtsanwältin und Strafverteidigerin aus Vorarlberg. „Die Anzahl der Einweisungen wird durch das Anpassungsgesetz nicht runtergehen.“

Vergleich mit Deutschland

Genau das sollte aber das Ziel der Reform des Maßnahmenvollzugs sein. Immerhin werden in Österreich derzeit ca. 1.600 Personen in forensisch-psychiatrischen Zentren angehalten. Gemessen an der Gesamtbevölkerung sind das doppelt so viele Menschen wie in Deutschland, wie Jörg Kinzig in seinem Gastvortrag festhält. In beiden Ländern ist außerdem zu beobachten, dass zunehmend Personen mit Schuldunfähigkeit und mittelschweren Delikten in die Maßnahme eingewiesen werden.

Zu wenig Psychiater:innen und Gutachter:innen

Bei der anschließenden Podiumsdiskussion unter der Moderation von Florian Klenk, Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter, fordert Friedrich Forsthuber, Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien, eine engmaschige Nachbetreuung von Menschen, die aus dem Maßnahmenvollzug entlassenen werden. Auch viele Psychiater:innen fordern eine bessere Versorgung psychisch kranker Straftäter, bestätigt Prof. Kinzig. Dass dies nicht eine reine Ressourcenfrage ist, hält Dr. Christian Korbel, Ärztlicher Leiter des Landesklinikums Mauer, fest. „Selbst wenn mehr Geld da wäre, fehlen uns die Leute in der Psychiatrie. Man sieht das bereits in der Ausbildung. Es kommt zu wenig Personal nach.“

Court of Public Opinion

Ein weiteres Problem sieht Ingeborg Zerbes vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien in der Reflexartigkeit, mit der in Österreich Gesetze geändert werden. Das jüngste Beispiel dafür ist das Maßnahmenpaket gegen Kindesmissbrauch, das nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Burgschauspieler Florian Teichtmeister in einer Hauruckaktion entworfen wurde. Andrea Concin spricht in diesem Zusammenhang von „wahlkampfmäßigen Strafverschärfungen“ und weist auch auf das Phänomen des „Court of Public Opinion“ hin. Gemeint ist damit, dass vor allem soziale Medien genutzt werden, um die öffentliche Unterstützung für eine Seite oder die andere in einem Gerichtsprozess zu beeinflussen, was dazu führen kann, dass Personen außerhalb des Justizsystems Maßnahmen für oder gegen eine Partei ergreifen. Ingeborg Zerbes erinnert dabei an den Galgen, der im Prozess Teichtmeister vor dem Landesgericht aufgestellt wurde.

Gesamtreform statt politisches Kleingeld

Auch wenn sich Strafverteidiger:innen und Richter:innen nicht immer einig sind, wie es seit 2014 zu einer beinahen Verdoppelung der Einweisungen in den Maßnahmenvollzug kommen konnte, so hat dennoch die rege Teilnahme an der Diskussion gezeigt, wie wichtig der fachliche Austausch und Perspektivenwechsel auf diesem Gebiet sind. Einzelfälle, wie der Mord am Brunnenmarkt oder Bilder eines verwahrlosten Insassen, die gerne politisch aufgegriffen werden, dürfen nicht über das Schicksal von knapp 1.500 psychisch kranken Straftäter:innen entscheiden. Eine Gesamtreform des Maßnahmenrechts und -vollzugs ist nach wie vor dringend erforderlich. Was diese jedenfalls zu beinhalten hat, hat das Netzwerk Kriminalpolitik in einer Stellungnahme festgehalten.

Über die/den Autor:in

Maria Renner ist seit 2022 Teil des Kommunikations-Teams des Vereins und ist Ansprechpartnerin für sämtliche NEUSTART Publikationen, unter anderem unseren Jahresbericht „Report“.

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