Frühzeitig sozial konstruktiv

Eine – als Reaktion auf delinquentes Verhalten strafunmündiger Jugendlicher überlegte – Senkung der Strafmündigkeit hat weder generalpräventives, noch spezialpräventives Potential zur Senkung der Jugendkriminalität. Gefängnisse sind der denkbar schlechteste Ort für eine positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.  Präventiv wirksame Maßnahmen sind im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sowie im Bereich des Zivilrechts zu ergreifen.

Vorschläge:

  • Ein bundesweit einheitlicher Katalog an wirksamen Präventionsmaßnahmen für die Altersgruppe der 10- bis 13-Jährigen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sowie des Zivilrechts soll unter Beteiligung der Bundes- und der Landespolitik erarbeitet werden.
  • Solche Maßnahmen können von einer intensiven Unterstützung der Familie (etwa auch im Rahmen einer Sozialnetzkonferenz) über Täter-Opfer-Ausgleich sowie Antigewalt- und Affektkontrolltrainings bis hin zu einer Fremdunterbringung in sozialpädagogisch betreuten Wohneinrichtungen mit fallweiser, durchsetzbarer Aufenthaltspflicht reichen.
  • Schulsozialarbeit sollte flächendeckend für alle Schulen eingeführt werden.

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NEUSTART lehnt eine Senkung der Strafmündigkeit ab und teilt die Erklärung des Netzwerks Kriminalpolitik zum Strafmündigkeitsalter. Zur Debatte um das Alter für die Strafmündigkeit weist NEUSTART darauf hin, dass schwere Straftaten von Kindern sehr selten vorkommen. Wenn es zu solchen kommt, ist die Betroffenheit verständlicherweise groß. NEUSTART begrüßt eine politische und öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema Kinder- und Jugendkriminalität ausdrücklich, fordert jedoch gleichzeitig eine evidenzbasierte und sachliche Diskussion und nicht kurzfristige Reaktionen auf einzelne Straftaten.

Wie die Sozialpolitik ist auch das gute Funktionieren des Rechtssystems und seiner Institutionen kriminalpräventiv ausschlaggebend. Wenn Rechtsnormen verständlich und akzeptiert sind, wenn Polizei und Gerichte als allgemein zugänglich und fair erfahren werden, stärkt dies das Vertrauen in die soziale Ordnung und die Bindungswirkung der rechtlichen Normen. Das ist die Voraussetzung für wirksame, informelle soziale Kontrolle.

Wir unterstützen ausdrücklich Initiativen zur Information, Aufklärung sowie Beratung zu Risiken als auch Initiativen, die sich mit vorbeugenden Angeboten an spezielle Risikogruppen richten. NEUSTART bietet beispielsweise im Rahmen der Schulsozialarbeit, Suchtprävention sowie Jugendhilfe präventive Leistungen für Jugendliche an.

Junge Menschen und unter ihnen insbesondere Burschen weisen eine vergleichsweise höhere Kriminalitätsbelastung auf, als Erwachsene. Vermehrtes delinquentes Verhalten bei jungen Männern ist in allen Kulturen zu beobachten, wie Vergleichsstudien zeigen. Neurologische Forschungen aus jüngerer Zeit legen nahe, dass eine später einsetzende Reifung des frontalen Kortex, der im Gehirn für die Hemmung emotional gesteuerter Verhaltensweisen zuständig ist, dafür verantwortlich sein könnte.

Das bereits seit langem beforschte Phänomen der erhöhten Kriminalitätsbelastung junger Menschen hängt auch mit zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters, nämlich der Entwicklung persönlicher Autonomie sowie sozialer Integration zusammen. Normübertretung im Sinne des Auslotens von Grenzen und solches Handeln in Gruppen begleitet oft den Entwicklungsprozess einer individuellen und sozialen Identität. Repressive Sanktionen statt konstruktiver Reaktionen auf jugendliche Delinquenz bergen die Gefahr in sich, dass sich schädigendes Verhalten verfestigt. Der Stand der Forschung ergibt, dass (frühe) Härte und rigide Strafenpolitik keine Wirkung auf die Reduktion von Jugendkriminalität haben. An diesen Befunden hat sich eine rationale und maßvolle Kriminalprävention auszurichten.

Realistische Selbsteinschätzung, gepaart mit einem gesunden Selbstbewusstsein, lebensnahes Erproben und Erlernen positiver sozialer Fähigkeiten, das Erleben gewaltfreier Konfliktlösung in Spannungssituationen, sowie Geborgenheit im fördernden und fordernden sozialen Umfeld sind die beste Vorsorge gegen destruktives Verhalten.

Familienorientierte Prävention muss zu einem großen Teil darauf abzielen, Eltern bei ihren Erziehungsaufgaben zu unterstützen und sie im Umgang mit Problemverhalten zu beraten. Das ist eine wichtige Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, der freien Träger, der außerschulischen Jugendarbeit sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Kinder und Jugendliche verbringen einen wesentlichen Teil ihrer Zeit in der Schule und ihre Kontakte mit Gleichaltrigen basieren häufig auf Bekanntschaften in der Klasse oder in der Schule. Diese sozialen Gefüge spielen eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung eines positiven Sozialverhaltens. Sie können aber auch Einfluss nehmen auf die Entstehung von Gewalt und Delinquenz. Schulsozialarbeit unterstützt Schüler:innen und Lehrer:innen bei der Bewältigung von problematischen Situationen wie Mobbing, wirkt gewaltpräventiv durch Hilfe zur schulischen und außerschulischen Integration von verhaltensauffälligen Schüler:innen und unterstützt das familiäre Umfeld bei der Bewältigung schulischer Probleme und Krisen durch Krisenintervention. Ein auf diese Weise verstandener partizipativer Präventionsansatz nimmt das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung ernst und grenzt irrationale Kriminalitätsfurcht ein.

Kinder unter 14 Jahren, die polizeilich auffällig werden, brauchen spezielle pädagogische Angebote im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Neben dem notwendigen flächendeckenden Angebot an Schulsozialarbeit, sind altersgerechte Täter-Opfer-Ausgleichsmodelle, adaptierte Antigewalttrainings oder Einzelbetreuung sinnvoll. Solche präventiv wirksamen Angebote sollten im Rahmen der Kinder und Jugendhilfe zur Verfügung stehen. Zur Aktivierung unterstützender Ressourcen sollen durch die Kinder- und Jugendhilfe Sozialnetzkonferenzen (nach den bereits in der justiznahen Sozialarbeit bewährten Konzepten) auch für Kinder und Jugendliche initiiert werden, wenn das erforderlich ist, um einer zu befürchtenden Straffälligkeit vorzubeugen. Dabei könnte an jene Methoden angeknüpft werden, die bei der Kinder- und Jugendhilfe im Rahmen von Familienkonferenzen (zur Wahrung des Wohls kleiner Kinder) bereits Anwendung finden. Im Übrigen ist es sinnvoll, die in den einzelnen Bundesländern teilweise unterschiedliche Praxis der Maßnahmen- und Methodenanwendung zu erheben und zu evaluieren, als Basis für eine Übertragung erfolgreicher Modelle in alle Bundesländer.

Auch eine in sozialpädagogisch betreuten Wohneinrichtungen durchsetzbare Aufenthaltspflicht sollte kein Tabuthema sein. Die konkrete Ausgestaltung einer solchen Aufenthaltspflicht muss in einem grundrechtskonformen Rechtsrahmen erst erarbeitet werden und benötigt eine adäquate Ressourcenausstattung sowie bedarfsgerechte Qualitätsvorgaben.

Der Ausbau bereits bestehender Spezialnormen soll zu einer Verringerung der Inhaftierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen führen.

Vorschläge:
  • absolute Strafobergrenze von zehn Jahren bei Tatbegehung vor Vollendung des 18. Lebensjahres;
  • keine Mindeststrafdrohungen;
  • Herabsetzung der Höchststrafdrohungen auf zwei Drittel bei Tatbegehung nach Vollendung des 18. und vor Vollendung des 21. Lebensjahres;
  • Tatbegehung vor Vollendung des 25. Lebensjahres als Milderungsgrund;

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Die Entwicklungsphase der Adoleszenz ist eine krisenhafte, von Grenzüberschreitungen geprägte Lebensphase der Identitätsentwicklung. Gerade im Bereich der Normüberschreitungen – auch in Bezug auf strafrechtliche Normen – gibt es in dieser Altersgruppe massive Häufungen. Insbesondere die Altersgruppe der 18- bis 20-Jährigen weist eine besonders hohe Kriminalitätsbelastung auf, die jedoch in den unmittelbar darauffolgenden Altersgruppen (entwicklungsbedingt) deutlich sinkt. Dieses Phänomen ist bereits seit langem beforscht und hängt mit zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters, nämlich der Entwicklung persönlicher Autonomie sowie sozialer Integration zusammen. Normübertretung im Sinne des Auslotens von Grenzen ist ein oft notwendiges Begleitphänomen im Prozess der Entwicklung einer individuellen und sozialen Identität.
Ein Haftvollzug in der Entwicklungsphase der Adoleszenz ist aufgrund der stattfindenden Identitätsbildung besonders problematisch, da sich Identität immer nur in Beziehungen entwickeln kann, was dann in der Subkultur des Gefängnisses stattfindet.
Aus diesen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen folgt, dass die staatlichen Reaktionen auf strafbares Verhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit deutlich geringerer Eingriffsintensität zu wählen sind, als bei Erwachsenen, die die Entwicklungsphase der Adoleszenz bereits abgeschlossen haben. Auf diesem Grundgedanken basieren die dargestellten Vorschläge zu einem Ausbau bereits bestehender Spezialnormen. Durch das JGG-ÄndG 2015 (BGBl I Nr. 154/2015) wurde der Ausbau von Spezialnormen bereits in den folgenden Punkten umgesetzt:

  • absolute Höchststrafe 15 Jahre bei Tatbegehung vor Vollendung des 21. Lebensjahres (§ 19 Abs. 1 JGG);
  • Angleichung der Mindeststrafdrohungen bei Tatbegehung vor Vollendung des 21. Lebensjahres an die für Jugendstraftaten geltenden Mindeststrafdrohungen (§ 19 Abs. 1 JGG);
    • Ausweitung der Möglichkeiten diversioneller Erledigungen bei Tatbegehung vor Vollendung des 21. Lebensjahres wie bei Jugendstraftaten (§§ 7 und 19 Abs. 2 JGG);
  • Schuldspruch ohne Strafe oder unter Vorbehalt der Strafe auch bei Tatbegehung vor Vollendung des 21. Lebensjahres (§§ 12 , 13 und 19 Abs. 2 JGG);
  • Ausweitung der Möglichkeiten bedingter und teilbedingter Strafnachsicht bei Tatbegehung vor Vollendung des 21. Lebensjahres wie bei Jugendstraftaten (§§ 5 Z 9 und 19 Abs. 2 JGG);
  • gesetzliche Verankerung der Sozialnetz-Konferenz bei Tatbegehung vor Vollendung des 21. Lebensjahres (§§ 17a und 35a JGG).

Derzeit sind die meisten Strafdrohungen bei Jugendstraftaten (= Tatbegehung vor Vollendung des 18. Lebensjahres) halbiert (§ 5 Z 4 JGG). Dadurch sind die oben erwähnten entwicklungspsychologischen Erkenntnisse für diese Altersgruppe berücksichtigt. Unberücksichtigt bleibt dabei jedoch, dass die menschliche Entwicklung fließende Übergänge aufweist. Strafdrohungen sollen daher nicht mit Vollendung des 18. Lebensjahres verdoppelt werden, sondern erst stufenweise ansteigen.

Die meisten Vorschläge von NEUSTART in diesem Kapitel orientieren sich an den bereits im Strafrecht etablierten Altersgruppen „Jugendliche“ und „Junge Erwachsene“. Um auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Entwicklungsphase der Adoleszenz nicht mit Vollendung des 21. Lebensjahres beendet ist, sondern durchaus in die Mitte des dritten Lebensjahrzehnts reichen kann, wird vorgeschlagen, eine Tatbegehung vor Vollendung des 25. Lebensjahres als Milderungsgrund zu werten. Es wäre dies eine weitere Abstufung; ab Vollendung des 21. Lebensjahres wären zwar sämtliche Bestimmungen des „Erwachsenenstrafrechts“ anzuwenden, aber der Umstand möglicher entwicklungsbedingter Tatursachen wäre bei der Strafbemessung zu berücksichtigen.

Menschen mit Asylwerberstatus haben faktisch kaum Zugang zu einer Beschäftigung. Nicht zuletzt wegen des mit einer Perspektivlosigkeit verbundenen Sicherheitsrisikos ist ein Arbeitsmarktzugang für Asylwerberinnen und Asylwerber ohne diese Einschränkungen zu fordern.

Vorschlag

Aufhebung der Zugangsbeschränkungen am Arbeitsmarkt für Menschen mit Asylwerberstatus.

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Menschen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft ohne Zugang zum Arbeitsmarkt werden häufig in die Illegalität und auf informelle Arbeitsmärkte gedrängt. Eine besondere Gruppe stellen Menschen mit Asylwerberstatus dar. Derzeit wird für Asylwerber:innen während ihres Asylverfahrens der Weg zu legaler Arbeit immer mehr und im verstärkten Ausmaß eingeschränkt. Nach dem geltenden Ausländerbeschäftigungsgesetz können sie zwar grundsätzlich drei Monate ab Antragstellung eine Beschäftigungsbewilligung erhalten (§ 4 Abs. 1 Z 1 Ausländerbeschäftigungsgesetz), jedoch ist diese Möglichkeit in der Praxis stark eingeschränkt. Auch die ehemals für junge Asylwerber:innen vorhanden gewesene Möglichkeit, eine Lehre in einem Mangelberuf absolvieren zu können (Erlass BMASK – 435.006/0005-VI/B/7/2013), wurde leider beseitigt. In der Praxis sind daher die Chancen auf eine (befristete) Bewilligung gering. Die Folgen für Betroffene sind oft jahrelanges Warten auf das Ende des Verfahrens und während dieser Zeit Abhängigkeit von den Grundversorgungsleistungen. Durch die fehlende Möglichkeit, Arbeit außerhalb der Saisonkontingente annehmen zu können – selbst, wenn eine geeignete Arbeitsstelle vorhanden wäre – ist es für Betroffene nur schwer möglich, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Außerdem ist Beschäftigung auch ein bedeutender Faktor im Integrationsprozess.

Die „Aufnahmerichtlinie“ (RL 2013/33/EU vom 26.6.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) sieht in Art 15 vor, dass Asylwerber:innen spätestens neun Monate nach Antragstellung (wenn bis dahin keine erstinstanzliche Entscheidung erlassen wurde) ein „effektiver“ Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren ist. Dabei kann jedoch eine Arbeitsmarktprüfung mittels Ersatzkraftverfahren durchgeführt werden und Stellen können mit anderen, im Sinne der Richtlinie vorrangig zu behandelnden Personen (z.B. mit länger integrierten Personen) besetzt werden. Jede weitere Beschränkung über die Arbeitsmarktprüfung hinaus führt in der Realität dazu, dass noch weniger Asylwerberinnen und Asylwerber eine Möglichkeit für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit finden, was der Vorgabe eines „effektiven“ Zugangs zum Arbeitsmarkt nicht gerecht wird.