Die Justiz muss den Maßnahmen der wiedergutmachenden Gerechtigkeit und sozial konstruktiven Maßnahmen gegenüber bloßem „Strafen“ den Vorzug geben.
Vorschläge:
- Die Freiheitsstrafe sollte nur als letztes Mittel, als „Ultima Ratio“, zum Zwecke einer künftigen Vermeidung von Straftaten zum Einsatz kommen. Einer breiten Anwendung sozial konstruktiver Maßnahmen wie Bewährungshilfe, Wiedergutmachung, Tatausgleich und gemeinnützige Leistungen ist der Vorzug zu geben.
- Die Befriedigung der Opferbedürfnisse muss ein noch stärkerer Teil von Maßnahmen in der Strafjustiz werden. Materielle und emotionale Wiedergutmachung sollen im Vordergrund stehen.
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Eine gesellschaftliche Reaktion auf Straftaten ist für den sozialen Zusammenhalt und als friedensstiftende Maßnahme notwendig. Strafe ist nur dann nachhaltig, wenn sie der Abwehr von Gefährdung und der Wiedergutmachung dient. Jedenfalls dient sie nicht zur Befriedigung von Vergeltungsimpulsen. Die politischen Akteur:innen in diesem Feld müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein deeskalierend und lösungsorientiert in der Öffentlichkeit argumentieren und so einen konstruktiven Beitrag zum Entstehen des subjektiven Sicherheitsgefühls in der Bevölkerung leisten.
Das Bedürfnis der Bevölkerung nach Sicherheit ist berechtigt und soweit wie möglich zu erfüllen. Es ist ihm und auch den berechtigten Opferinteressen aber nur gedient, wenn das Ziel der Resozialisierung von Straffälligen und der Rückfallvermeidung im Zentrum steht. Die Wahrung der Menschenrechte und ein möglichst schonender Eingriff in die Grundrechte dürfen den Sicherheitsinteressen nicht untergeordnet werden, da es auch den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu wahren gilt.
„Der Entzug der persönlichen Freiheit darf nur gesetzlich vorgesehen werden, wenn dies nach dem Zweck der Maßnahme notwendig ist; die persönliche Freiheit darf jeweils nur entzogen werden, wenn und soweit dies nicht zum Zweck der Maßnahme außer Verhältnis steht.“ (Bundesverfassungsgesetz vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit (PersFrG); BGBL. Nr. 684/1988 Artikel 1 Abs 3)
Eine den Menschenrechten verpflichtete Kriminalpolitik sieht im Rechtsstaat den Garanten zur Wahrung von Grundrechten. Freiheitsentziehende und -beschränkende Maßnahmen sind jedoch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und sozialer Verantwortlichkeit auch für die Integration von Rechtsbrechern in die Gesellschaft anzuwenden. Die Freiheitsstrafe sollte nur als letztes Mittel, als „Ultima Ratio“, zum Zweck einer künftigen Vermeidung von Straftaten zum Einsatz kommen. Aber auch im Strafvollzug sollten Maßnahmen, die dem Prinzip der Restorative Justice folgen, zur Anwendung kommen (siehe auch Kapitel 2.17).
Wiedergutmachende Gerechtigkeit
Einer breiten Anwendung sozial konstruktiver Maßnahmen wie Bewährungshilfe, Wiedergutmachung, Tatausgleich und gemeinnützige Leistungen ist der Vorzug zu geben. Diese Reaktionen, die den Täter:innen aktive Leistungen abverlangen und dabei individuelle Gestaltungsspielräume zulassen, nützen der Gemeinschaft mehr als eine ausschließlich strafende Sanktionspolitik, da sie auch Elemente wiedergutmachender Gerechtigkeit („Restorative Justice“) etablieren. Die Täter:innen werden zu selbstverantwortlichem Handeln in sozialer Verantwortung angehalten und dabei unterstützt, sich mit ihren Taten und deren Folgen für die Opfer auseinanderzusetzen. Dabei erfahren die Opfer von Straftaten eine Aufwertung und auch materielle Wiedergutmachung. Die Entwicklung der sozialarbeiterischen Angebote von NEUSTART orientiert sich in allen Leistungsbereichen an der Verknüpfung von täterorientierten, rehabilitativen und opferorientierten, wiedergutmachenden Grundsätzen.
Diese Grundsätze sind:
- Die Bedürfnisse der Opfer werden berücksichtigt.
- Täter:innen bekennen sich zu ihren Taten und übernehmen Verantwortung.
- Täter:innen leisten materielle und emotionale Wiedergutmachung.
- Täter:innen erhalten dabei und bei ihrer gesellschaftlichen Integration Unterstützung.
Dadurch wird der Rechtsfrieden und damit verbunden der soziale Frieden wiederhergestellt. Resozialisierung und Wiedergutmachung sind miteinander vereinbar und ergänzen einander. Eine dauerhafte Resozialisierung braucht Wiedergutmachung, und geleistete Wiedergutmachung hat Einfluss auf die Resozialisierung.
Wiedergutmachende Gerechtigkeit meint die Herstellung des Rechtsfriedens durch Konfliktlösung unter Einbeziehung aller Beteiligten, bei der die berechtigten Anliegen der Opfer berücksichtigt werden. Die Bedürfnisse und Interessen der Opfer sowie klare Verantwortung des Täters sind dabei zentrale Kriterien. Diese Elemente und Prinzipien sollen in der österreichischen Strafrechtspraxis auch über die Diversionsform Tatausgleich hinaus Anwendung finden.
Vorschläge
- In allen Stadien des Strafprozesses und im Strafvollzug sollen Bemühungen um einen Tatausgleich aktiv angeregt und gefördert werden. Dabei sind vor allem die Opferinteressen als Entscheidungskriterien heranzuziehen.
- Für diese Initiative sollen die finanziellen Mittel für ein freiwilliges und für die Beteiligten kostenloses Angebot zur Verfügung gestellt werden.
- Im Bereich der Diversion soll nicht zuletzt im Sinne der Wahrung der Opferinteressen (§ 206 StPO) das Potenzial des Tatausgleichs (§ 204 StPO) besser ausgeschöpft werden.
- Über die derzeitigen Möglichkeiten der Diversion hinaus soll die Finanzierung eines professionell begleiteten Dialogs zwischen Täter und Opfer in folgenden Bereichen ermöglicht werden:
- Tatausgleich vor dem Urteil auch bei nicht diversionsfähigen Delikten o Tatausgleich im Rahmen der Bewährungshilfe
- Angebot des Tatausgleichs auch bei gerichtlicher Verurteilung
- Tatausgleich im Rahmen der Verbüßung einer Freiheitsstrafe
- Mediation als Vorbereitung der Situation nach der Entlassung in den Nahbereich des Opfers
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Die Empfehlung CM/Rec(2018)8 des Europarates zur Restorative Justice besagt: „Restorative Justice sollte in allen Stufen des Strafprozesses verfügbar sein.“ Auch die UN Basic Principles zum Gebrauch von Restorative Justice Verfahren in Strafsachen fordern: „RJ Programme sollten generell auf allen Stufen des Strafprozesses verfügbar sein.“ In Österreich ist Restorative Justice in Form des Tatausgleichs derzeit nur in eingeschränktem Rahmen – dem der Diversion – möglich.
Der Tatausgleich im Rahmen der Diversion ist in Österreich gut entwickelt und stellt ein wichtiges Angebot im Sinne der Opferorientierung dar. Seit Bestehen des Tatausgleichs wurden bereits rund 210.000 Fälle durch NEUSTART bearbeitet, in deutlicher Mehrheit der Fälle mit einer Einigung und Wiedergutmachung zwischen Beschuldigten und Opfern.
Die Auftragszahlen im Tatausgleich sind seit Jahren rückläufig, obwohl der Tatausgleich auch unter Opfergesichtspunkten die Diversionsmaßnahme der Wahl sein sollte. Untersuchungsergebnisse zum Tatausgleich sprechen eine deutliche Sprache: Hofinger (2014) verglich den Rückfall von nicht vorbestraften erwachsenen Personen mit dem Delikt leichte Körperverletzung (§83 StGB) nach Gerichtsurteil und positivem Tatausgleich: 24 Prozent Rückfall nach Gerichtsurteil, 9 Prozent Rückfall nach Tatausgleich. Der geringe Rückfall nach positivem Tatausgleich konnte auch in weiteren Studien (Hofinger 2008 und 2017) bestätigt werden. Die Zufriedenheit der Opfer ist ebenfalls hoch: Rund 80 Prozent von Opfern stimmten der Aussage „ Insgesamt war ich mit dem Ergebnis des Tatausgleichs zufrieden“ vollkommen oder eher zustimmen (Haller 2022).
Pelikan (2009) berichtet, dass 80 Prozent von weiblichen Opfern von Beziehungsgewalt sich durch den Tatausgleich gestärkt und unterstützt fühlten.
Auch in der Richtlinie 2012/29/EU des europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI steht in der Begründung zu lesen: „Wiedergutmachungsdienste, darunter die Mediation zwischen Straftäter und Opfer, Familienkonferenzen und Schlichtungskreise, können für das Opfer sehr hilfreich sein, doch bedarf es Schutzmaßnahmen zur Vermeidung einer sekundären oder wiederholten Viktimisierung oder Vergeltung. (…)“.
Auch und manchmal gerade bei schweren Delikten kann es hilfreich sein, wenn Opfer von Täter:innen auf angemessene Weise in gut vorbereitetem Rahmen Antworten auf ihre Fragen erhalten, um den Vorfall besser verarbeiten zu können.
Manchmal haben Opfer den Wunsch, mit dem:der Täter:in in Kontakt zu treten, um mit deren Antworten auf offene Fragen die Tat besser überwinden zu können. Mitunter entwickeln auch Täter:innen im Zuge einer Tateinsicht Reue oder den Wunsch nach Wiedergutmachung und das Bedürfnis, dem Opfer etwas mitzuteilen oder Wiedergutmachung anzubieten.
Dies soll in allen Stadien des Strafverfahrens und Strafvollzugs möglich sein, immer unter ganz besonderer Rücksicht auf die Situation des Opfers und genauer Prüfung der Voraussetzungen. Die erste Kontaktaufnahme mit dem Opfer soll keinesfalls durch eine Person erfolgen, die den:die Täter:in betreut. Persönliche Treffen sollen – wenn überhaupt – nur auf ausdrücklichen Wunsch des Opfers in sorgfältig vorbereitetem Rahmen durchgeführt werden können.
Vor der Entlassung von Gefangenen nach langer Haftstrafe in ihr altes soziales Umfeld ist es immer wieder möglich, dass es nach Jahren unvorbereitet zu einem Treffen zwischen Täter:in und Opfer kommt. Um diese Situation vorzubereiten, soll in diesen Fällen vor Entlassung das Angebot für beide bestehen, diese Situation mit Hilfe von Mediator:innen so vorzubereiten, dass keine vermeidbaren Probleme entstehen.