Bitte stell dich kurz vor
Ich heiße Anna Lorber, bin 59 Jahre alt und komme ursprünglich aus dem Pongau – inzwischen lebe ich aber schon seit mehr als 37 Jahren in Linz.
In welcher NEUSTART Einrichtung und welchem Bereich arbeitest Du?
Bei NEUSTART Oberösterreich in Linz in den Dienstleistungen Bewährungshilfe, elektronisch überwachter Hausarrest, Gewaltpräventionsberatung und Vermittlung gemeinnütziger Leistungen. Außerdem leite ich mit einer Kollegin ein Team ehrenamtlicher Bewährungshelfer:innen.
Seit wann bist du bei NEUSTART?
Seit 1989.
Warum hast du dich für NEUSTART als Arbeitgeber entschieden?
Naja, das war eher ein Zufall. Ich habe nicht gesucht, sondern wurde gefunden (lacht). Ein Kollege, der damals schon hier gearbeitet hat, hat mich beim Fortgehen gefragt, weil eine Karenzvertretung gesucht wurde. Das war damals noch für den Wohnbereich für Jugendliche, den es heute so gar nicht mehr gibt. Das wurde dann verlängert und nach zwölf Jahren bin ich schließlich in die Bewährungshilfe gewechselt, das war 2001.
Du hast vorgeschlagen, dass wir über die Arbeit mit jüngeren Klient:innen sprechen, gleichzeitig arbeitest du schon sehr lange bei NEUSTART. Wie hat sich die Arbeit mit jugendlichen Klient:innen seit deiner Anfangszeit entwickelt?
Die Fälle, mit denen wir es heute zu tun haben, sind wesentlich komplexer. Das liegt aber daran, dass es jetzt einfach mehr Angebote gibt, die wir bei NEUSTART abdecken – den Tatausgleich, die Vermittlung gemeinnütziger Leistungen und so weiter. Aber auch die Problemlagen der Jugendlichen haben sich verändert. Sucht ist ein großes Thema, auch Obdachlosigkeit und fehlende Perspektiven. Mehr Klient:innen als früher legen selbstschädigendes Verhalten an den Tag. Oft fehlt das familiäre Umfeld, das sie unterstützt. Früher war Alkohol viel mehr Thema als jetzt, dafür gibt es heute kaum mehr eine Gegend in Österreich, wo es keinen leichten Zugang zu Drogen gibt – die Jugendlichen kommen viel früher damit in Kontakt.
Insgesamt ist es auch schwieriger geworden, weil heute viel mehr Jugendliche keinen Mittelschulabschluss mehr schaffen. Sie steigen zum Beispiel spät und mit Sprachschwierigkeiten ein oder wurden in der Familie zu wenig gefördert. Viele verlassen die Schule dann nach der zweiten oder dritten Klasse Mittelschule und können danach nur schwer beruflich Fuß fassen. Diese fehlende Tagesstruktur und niedrige Frustrationstoleranz zieht sich dann weiter ins Erwachsenenleben.
Wie hat sich die Lebenswelt Jugendlicher und junger Erwachsener verändert?
Ich glaube, dass unser Umfeld insgesamt, nicht nur für Jugendliche, komplexer geworden ist und mehr Anforderungen an uns stellt – auch an Erwachsene. Wobei ich den Eindruck habe, dass die meisten Jugendlichen sogar besser mit diesen Veränderungen umgehen als ältere Menschen. Sie haben nicht ständig Angst, was alles passieren könnte. Gesamtgesellschaftlich hat sich viel verändert, alleine wenn man sich die Digitalisierung anschaut … Zu meiner Anfangszeit haben wir noch handschriftliche Protokolle geschrieben, das ist heutzutage überhaupt kein Thema mehr.
Sind die Jugendlichen heute anders als früher? Worin unterscheiden sich deine „Gen Z“ Klient:innen von früheren Generationen und gibt es Dinge, die sich am Erwachsenwerden nie ändern werden?
Ja, aber das ist ganz schwer zu beschreiben. Teilweise habe ich das Gefühl, sie sind offener. Es fällt ihnen leichter, über Emotionen und Bedürfnisse zu sprechen. Wenn ich da an die Jugendlichen von früher denke, gerade aus dem ländlichen Bereich … die hatten gar keine Worte dafür. Auch wenn es in manchen Kreisen immer noch schwierig ist, sind die jungen Leute heute viel toleranter gegenüber anderen Lebenswelten. Homosexualität war früher für viele Jugendliche etwas „ganz furchtbares“ und heute ist das zum Glück kein großer „Aufreger“ mehr. Früher war es außerdem die Ausnahme, dass Eltern geschieden waren oder Kinder in Patchworkfamilien aufwuchsen. Damals wurden sie damit oft zu Außenseiter:innen.
Aber auch mein eigener Zugang zu den Jugendlichen hat sich verändert. Früher dachte ich, mit 50 kann ich auf gar keinen Fall immer noch Jugendliche betreuen, jetzt denke ich mir: „Hey, das geht ja total gut“. Gerade wegen dem größeren Altersunterschied ist oft mehr Vertrauen da. Als ich 23 war und meine Klient:innen 17 oder 18, war es manchmal sogar schwieriger.
Schauen wir vielleicht auf die Rahmenbedingungen für junge Leute in schwierigen Lebenssituationen – auf Angebote, Anlaufstellen und die Vernetzung mit verschiedenen Systempartner:innen. Was ist heutzutage besser, was vermisst du aus deiner Anfangszeit?
Es gibt inzwischen, viel, viel mehr Einrichtungen. Ganz am Anfang gab es in Linz ein Arbeitsprojekt und das war es dann … und das Jugendamt natürlich! Vor ungefähr 20 Jahren kam dann die erste Jugendnotschlafstelle dazu und nach und nach haben sich weitere Vereine gebildet. Wir können inzwischen aus viel mehr Kursangeboten schöpfen. Außerdem gibt es die Ausbildungspflicht mit begleitendem Jugendcoaching. Ich kann also für meine Klient:innen jederzeit jemanden „dazuschalten“, um gemeinsam ein gutes Betreuungskonzept auf die Beine zu stellen. Was mir persönlich aber oft fehlt, ist die Zeit pro Klient:in, die definitiv weniger geworden ist.
Damals gab es noch keine Smartphones, geschweige denn das Internet in der Form wie wir es heute nutzen. Wie wirkt sich das auf die Jugendlichen aber auch auf deine Arbeit mit ihnen aus?
Es ist eigentlich total hilfreich. Früher gab es nur das Festnetz und wenn ich jemanden nicht erreichen konnte, hatte ich einfach Pech. Damals musste ich ganz viele Briefe und Karten schreiben (lacht). Also ich erlebe das echt als Erleichterung. Es ist auch total witzig, weil mir jugendliche Klient:innen gerne Fotos und Videos aus ihrer Freizeit und von ihren Freund:innen am Smartphone zeigen. So bekomme ich viel mehr Einblick in ihre Lebenswelt. Lustig ist auch, dass Jugendliche nur ganz selten anrufen. Sie schicken eher Sprachnachrichten oder SMS – also so „oldschoolmäßig“ anrufen, ist nicht mehr (lacht).
Aber obwohl ich es in der Betreuung als Erleichterung erlebe, ist es für die Klient:innen nicht immer so einfach. Ich habe zum Beispiel einen Klienten, der seiner eifersüchtigen Freundin regelmäßig das Handy zur Kontrolle vorlegen muss. Die Jugendlichen sind untereinander besser vernetzt, dadurch aber auch in Gefahr, sich gegenseitig negativ zu beeinflussen. Auch die unerreichbaren Selbstdarstellungen, mit denen gerade Mädchen auf Social Media konfrontiert sind, sind ein Problem. Burschen stellen sich gerne martialisch dar und bekommen positives Feedback, wenn sie „groß, stark und wild“ sind – das befeuert toxische Bilder von Männlichkeit.
Wie sieht es mit der Entwicklung bei den Delikten aus? Womit hattest du es in der Anfangszeit vermehrt zu tun, womit heute? Beobachtest du Trends oder signifikante Veränderungen?
Ich führe keine Statistik, würde aber gefühlsmäßig sagen, dass wir es früher eher mit Eigentumsdelikten – also etwa mit Einbrüchen in Kellerabteile oder Sachbeschädigung – zu tun hatten, aber auch mit Raufereien unter Alkoholeinfluss oder Widerstand gegen die Staatsgewalt. In den 90er Jahren hat uns in Linz die Hooliganszene stark beschäftigt, später Jugendbanden, wie die „Gummibärenbande“, die in Gruppen Delikte begangen haben. Aktuell beschäftigen uns vermehrt Drogendelikte und Raubüberfälle auf andere Jugendliche. Das ist immer in Veränderung.
Woran merkst du, dass deine Arbeit mit jugendlichen Klient:innen etwas bewirkt?
Wenn sie anfangen, mir zu vertrauen und wenn es uns gelungen ist, dass sie sich mit relevanten Fragen an mich wenden. Dass dieses Vertrauen da ist, merke ich zum Beispiel, wenn ihnen in kritischen Lebenssituationen einfällt, dass sie mich um Unterstützung bitten könnten oder wenn sie mir sagen, dass sie unsere Gespräche als bereichernd erleben. Einmal hat mir ein jugendlicher Klient, der eine Neigung dazu hatte, sich sehr emotional auszudrücken, gesagt, er redet so gerne mit mir, weil ich ihm immer ehrliche Rückmeldungen gebe. Das hat mich sehr berührt, weil es in dem Moment einfach authentisch war. Er meinte: „Da merke ich, ich bin dir nicht egal.“ Ein großer Schritt ist auch getan, wenn wir zusammen lachen können – zum Beispiel über die absurden Ideen, die Jugendliche eben manchmal haben. Es ist schön und befreiend, wenn man aus einem Termin rausgeht und merkt, was für ein gutes Gespräch das gerade war.
Bist du noch mit Jugendlichen aus deinen frühen Jahren bei NEUSTART in Kontakt, die inzwischen selbst erwachsen sind? Wie haben sie sich entwickelt?
Ganz, ganz wenig. Manchmal treffe ich zufällig wen auf der Straße und dann freuen wir uns. Ab und zu ruft noch jemand mit Fragen an, aber so richtig viel Kontakt habe ich eigentlich mit niemandem mehr.
Was gefällt dir an der Arbeit mit jungen Menschen am besten?
Ich mag ihre Authentizität, ihre Unbeschwertheit und ihre Hartnäckigkeit, wenn sie etwas erreichen wollen. Sie sind oft ehrlich und haben Humor. Ich mag die Energie, die sie ausstrahlen – auch wenn sie sie nicht immer konstruktiv einsetzen. Mich beeindruckt ihre Widerstandsfähigkeit in oft extrem schwierigen Situationen – etwa familiär oder wenn sie eine Fluchtgeschichte hinter sich haben. Viele haben Heimerfahrung oder waren in Pflegefamilien. Sie wurden oft enttäuscht und trotzdem lassen sie sich auf die Betreuung ein.
Wie findest du persönlich Ausgleich zu deinem Job?
Ich verbringe ganz viel Zeit mit meinen Katzen und einem befreundeten Hund. Überhaupt beschäftige ich mich viel mit Tierrechten und Tierethik. Ich habe, während meiner einjährigen Bildungskarenz, eine Ausbildung im Bereich tiergestützte Sozialarbeit gemacht. Mein Mann und ich haben außerdem ein Schiff auf der Donau, wo wir im Sommer viel Zeit mit Freund:innen am Wasser verbringen. Dieser Wechsel vom Land aufs Wasser ist jedes Mal aufs Neue ein willkommener Perspektivenwechsel. Ansonsten lese ich viel, besuche Ausstellungen, Kulturveranstaltungen und höre ganz viel Ö1.
Gibt es sonst noch etwas, das du mit deinen Kolleg:innen teilen möchtest?
Ich schätze meine Kolleg:innen in Linz total und es freut mich immer wieder, mit wie viel Engagement und Wohlwollen wir unseren Klient:innen begegnen und wie wir miteinander umgehen. Das genieße ich.


