Ein Arbeitsbehelf im Praxistest

Wie sieht meine Lebenssituation heute aus? Unser Arbeitsbehelf 263, die sogenannte „Reflexion zur Selbst- und Fremdeinschätzung“, besteht aus zwei Bögen – einem für Sozialarbeiter:innen und einem für ihre Klient:innen. Damit wird die Lebenssituation in der Eigen- und Fremdwahrnehmung erfasst. Erklärtes Ziel ist, die Ressourcen der Klient:innen sichtbar zu machen und ihre Selbstwirksamkeit zu erhöhen. Wird dieser Anspruch in der Praxis erfüllt? Ich habe bei haupt- und ehrenamtlichen Kolleginnen nachgefragt.

Der richtige Moment

Julia Minichberger (NEUSTART Oberösterreich), Eva-Maria Sitter und Nicole Suntinger (NEUSTART Kärnten) sowie Ingrid Wagner (NEUSTART Niederösterreich und Burgenland) haben gute Erfahrungen mit dem AB 263 gemacht. Sie nutzen ihn etwa gleich zu Beginn als Anamnesetool oder vor dem Erstbericht nach sechs Monaten.

„Oft ist das ein guter Moment, um zu schauen, wie es mit der Selbst- und Fremdeinschätzung aussieht. Gab es Erfolge? Dinge, die noch einmal auf die Agenda sollten?“, sagt etwa Nicole, die am AB 263 schätzt, dass sie damit einen schnellen und aussagekräftigen Einblick in die Lebenswelt ihrer Klient:innen erhält. Auch bei der Überlegung, einen Antrag auf Aufhebung der Bewährungshilfe zu stellen, hilft ihr das Tool: „Der AB 263 zeigt auf, ob die Einschätzungen des:der Klient:in mit jenen des:der Sozialarbeiter:in übereinstimmen oder ob es noch offene Ziele gibt“.

Ingrid schaut mit dem AB 263 gerne regelmäßig, wo ihre Klient:innen gerade stehen. Sie nutzt ihn während der gesamten Betreuungszeit kontinuierlich, ungefähr alle sechs Monate.

Auch für Julia ist der Arbeitsbehelf in allen Phasen sinnvoll: „Gerade wenn dadurch sichtbar wird, dass eine Verbesserung eintritt, ist er für ihre Klient:innen ein Ansporn, weiterzumachen.“

Eva-Maria greift gerne nach dem zweiten oder dritten Termin auf den AB 263 zurück, um die Lebenswelt ihrer Klient:innen besser kennenzulernen:

„Man kommt damit gut in den Austausch und die Hemmschwelle, in einen offen Dialog zu treten, sinkt.“

Realitätscheck

Laut Julia profitieren Klient:innen vom klaren Bild, das der AB 263 zeichnet: „Woran müssen wir noch arbeiten und welche Angebote wären ergänzend sinnvoll? Ich mache oft die Erfahrung, dass Klient:innen offener dafür sind, sich externe Hilfe zu holen, wenn sie das Ergebnis vor sich liegen haben und sehen, dass die Selbst- und Fremdeinschätzung komplett auseinandergehen.“

Nicole bestätigt, dass der Arbeitsbehelf mitunter ein Realitätscheck für ihre Klient:innen ist: „Sind wir ähnlicher Meinung und wenn nicht, warum? Es ist ok, darüber zu diskutieren.“ Außerdem ist der AB 263 für Nicole ein super Tool, um zu einer Zielvereinbarung zu kommen. Ein weiterer Vorteil für sie: „Durch ihre Partizipation und Mitwirkung erfahren Klient:innen Stärkung und Empowerment. Sie können eigene Sichtweisen und Einschätzungen darlegen und erleben, dass diese auch ernstgenommen werden.“

Als weiteren Vorteil ergänzt Ingrid, dass der Bogen zentrale Aspekte beleuchtet:

„Arbeit, Finanzen, Deliktverarbeitung, soziale Kontakte: All diese Dinge sind darin abgebildet.“

Für Nicole Suntinger ist der AB 263 ein super Tool, um zu einer Zielvereinbarung zu kommen.

Hausübung?

Sollte der Bogen besser zuhause oder direkt im Termin ausgefüllt werden? Hier scheiden sich die Geister. Für Eva-Maria etwa eignet sich die Reflexion gut als Hausübung: „Wenn sich mein:e Klient:in bereiterklärt, gebe ich den Bogen zum Ausfüllen mit.“

Auch Julia gibt den Bogen gerne für zuhause mit: „Überraschenderweise bringen die Klient:innen den Zettel dann tatsächlich ausgefüllt beim nächsten Termin mit. Es ist sogar schon vorgekommen, dass ich um eine Kopie gebeten wurde, damit ihn auch die Eltern ausfüllen können – die Ergebnisse waren sehr spannend.“

„Niemand mag gerne Hausaufgaben“, sagt hingegen Nicole, die die Reflexion immer direkt im Termin bearbeiten lässt und ihre Fremdeinschätzung gerne schon als Vorbereitung auf den Termin ausfüllt.

Ingrids Klient:innen füllen den Bogen immer während eines Termins aus. Sie selbst füllt ihren Bogen gar nicht aus:

„Wir gehen die Antworten Punkt für Punkt durch und ich stelle Fragen dazu oder ergänze, wenn mich etwas überrascht, weil ich es ganz anders eingeschätzt hätte.“

Reflexion über die eigene soziale Rolle

Die Aussagen „Es gibt Menschen, denen ich helfe, wenn sie etwas brauchen“ und „Es gibt Personen, für die ich wichtig bin“ sind ein Herzstück des AB 263. Laut Nicole zielen sie auf die soziale Eingebundenheit, den Selbstwert und die Beziehungsfähigkeit ab: „Diese Fragen eröffnen einen Diskurs über das soziale Umfeld, über Freunde und das Beziehungs- und Familiensystem sowie darüber, wie sich Klient:innen in ihren sozialen Rollen erleben.“

Julia hat bei diesen beiden Aussagen sogar schon Aha-Momente erlebt: „Für mich war anfangs logisch, dass ich für jene Menschen, denen ich helfe, auch umgekehrt wichtig bin – ich wurde eines Besseren belehrt.“

Eva-Maria stellt bei dieser Frage regelmäßig fest, dass Klient:innen (noch) kein „Helfer:innensystem“ haben, auf das sie zurückgreifen können. Die Gespräche in der Bewährungshilfe sind für diese Klient:innen umso wertvoller.

Ingrid hat die interessante Beobachtung gemacht, dass noch nie jemand meinte, dass es gar niemanden gibt, dem sie:er wichtig ist:

„Manchmal ist das zwar Zweckoptimismus aber selbst, wenn es nur teilweise zutrifft, ist es wichtig für den Selbstwert, für jemanden wichtig zu sein, jemandem zu helfen. Viele beschreiben sich als hilfsbereit. Darauf können wir in der Betreuung gut zurückgreifen.“

Mehrwert für Klient:in und Sozialarbeiter:in

Alle Kolleginnen stimmen überein, dass der AB 263 einen großen Mehrwert schafft. Für Ingrid wird damit der eigene Beitrag der Klient:innen sichtbar: „Es ist etwas Positives, dass die Klient:innen ihren Entwicklungsprozess sehen. Dass sie sehen, wo es ihnen jetzt gut geht und vor einem halben Jahr vielleicht noch nicht so gut gegangen ist. Dafür haben sie ja auch selbst viel getan und da frage ich dann nach: Wie war denn das genau? Was hast du getan, damit sich das so gut entwickelt hat? Wie hast du das geschafft?“. Außerdem betont Ingrid den Mehrwert für die Deliktverarbeitung: „Die Reflexion macht sichtbar, wie weit die Deliktverarbeitung gediehen ist. Klient:innen kommen immer wieder in Situationen, wo sie Gefahr laufen, in alte Muster zu verfallen. Ich finde es nachhaltiger, hier immer wieder hinzuschauen, als es schnell abzuhaken.“

Auch für Nicole zählt, dass damit Erfolge und Ressourcen sichtbar werden und dass die Reflexion sie dabei unterstützt, den Fokus auf die Zielvereinbarungen zu lenken: „Der AB 263 ist gut strukturiert und hilft mir, nicht verleitet zu werden, irgendwo nicht hinzuschauen. Klient:innen erfahren, dass es unterschiedliche Wahrnehmungen geben darf und diese wertschätzend besprochen werden können.“

Julia hat die Rückmeldung bekommen, dass es für Klient:innen zwar schwer und traurig war, zu sehen, wie viel eher negativ in ihrem Leben ist, sie jedoch einen Aufschwung erlebten, als die Einschätzung von Jahr zu Jahr positiver wurde und sie auf einen Blick sehen konnten, was sie alles erreicht haben.

Ähnliches berichtet Eva-Maria:

„Beim Vergleich der Lebenssituation vom Beginn der Betreuung mit der Situation kurz vor dem Abschluss, wird sichtbar, welche Ziele erreicht wurden. Das ist auch für mich motivierend.“

Kommt der Ab 263 für alle Klient:innen in Frage?

Nicole entscheidet individuell, ob der Bogen für die:den Klient:in, die:der gerade vor ihr sitzt, sinnvoll ist:

„Wenn ein:e Klient:in gerade ganz instabil ist, ist es vielleicht nicht das Richtige. In akuten Krisensituationen, wenn Wohnungslosigkeit, Sucht oder psychische Ausnahmesituationen im Raum stehen, geht es zuerst um Stabilisierung und Sicherheit, um Krisenintervention.“

Ähnliches beschreibt Ingrid: „Die, die gerade in einer totalen Krise stecken, die depressiv sind, die erleben das vielleicht sogar als Farce. Wenn jemand alles negativ sieht und mit der Arbeit oder finanziellen Situation ganz unzufrieden ist, dann sollte man den Finger nicht in die Wunde legen. Es ist aber extrem selten, dass man so vorsichtig sein muss. In den meisten Fällen, kann man das ruhig machen. Es ist auch eine Frage der Reflexionsfähigkeit, wie tief man mit jemandem einsteigen kann.

Eva-Maria und Julia haben bisher beide die Erfahrung gemacht, dass all ihre Klient:innen bereit sind, sich mit der Selbst- und Fremdeinschätzung auseinanderzusetzen, jedoch in Einzelfällen kleinere Anpassungen sinnvoll sind. Julia fasst zusammen:

Ingrid Wagner verwendet den AB 263 regelmäßig.

 „Auch in der Gewaltpräventionsberatung habe ich das Tool bereits vereinzelt verwendet, wenn es den Klient:innen schwer fiel, ihre Lebenssituation einzuschätzen. Bei jüngeren Klient:innen habe ich die Fragen teilweise einfacher formuliert und etwa physische und psychische Gesundheit getrennt voneinander abgefragt.“ 

Fazit

Eine klare Empfehlung für den AB 263 von Julia Minichberger.

Die „Reflexion zur Selbst- und Fremdeinschätzung“ scheint die Arbeit mit Klient:innen sinnvoll zu unterstützen. Sie kann individuell angepasst und vielseitig eingesetzt werden. Oder, um es mit den Worten unserer Kollegin Julia zu sagen:

„Ich bin sehr zufrieden damit und kann wirklich nur jeder:m ans Herz legen, den AB 263 in der Betreuung anzuwenden!“

Über die/den Autor:in

Laura Roth ist seit 2019 Teil des Kommunikations-Teams des Vereins NEUSTART. Ihre Schwerpunkte sind die interne Kommunikation und unsere Newsletter. In unserer Serie #TeamNEUSTART holt sie regelmäßig Kolleg:innen aus ganz Österreich vor den Vorhang

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