#TeamNEUSTART: Erich Gangl

Erich Gangl blickt auf ein bewegtes Berufsleben zurück. Mit Ende dreißig wechselte er auf dem zweiten Bildungsweg aus der Wirtschaft in die Sozialarbeit und hat diese Entscheidung nie bereut …

Bitte stell dich kurz vor.
Hallo, ich heiße Erich Gangl und befinde mich im 63. Lebensjahr – seit dem 39. bin ich Sozialarbeiter. Ursprünglich war ich in der Wirtschaft tätig, habe mich aber entschieden, berufsbegleitend die Sozialakademie zu absolvieren, weil ich einfach gespürt habe: „Ich will nicht in der Wirtschaft in Pension gehen“. Neben meiner früheren beruflichen Tätigkeit habe ich mich viel ehrenamtlich, etwa in der Flüchtlingshilfe, engagiert. Das hat mich in meiner Entscheidung für den zweiten Bildungsweg bestärkt. Ich habe drei erwachsene Kinder aus meiner inzwischen geschiedenen Ehe. Ursprünglich habe ich bei NEUSTART Oberösterreich begonnen, bin dann aber 2022 – nicht nur, aber auch – der Liebe wegen nach Graz gezogen. Seither bin ich bei NEUSTART Steiermark beschäftigt. Es wird mich aber mit dem Pensionseintritt demnächst wieder zurück nach Oberösterreich ziehen, unter anderem, weil ich als Opa gebraucht werde.

In welcher NEUSTART Einrichtung und welchem Bereich arbeitest Du?
In Graz in den Bereichen Bewährungshilfe und Gewaltpräventionsberatung. In Wels war ich mit Bewährungshilfe, meinem sehr großen Team Ehrenamtlicher und im Anti-Gewalt-Training so ausgelastet, dass ich keine Kapazitäten mehr für die Gewaltpräventionsberatung hatte, die mich aber sehr interessiert hat. Das war, neben meinem Privatleben, auch ein Mitgrund für meinen Umzug.

Warum hast du dich für NEUSTART als Arbeitgeber entschieden? Seit wann bist du schon dabei?
Von Anfang an hat mich die Männer- und Burschenarbeit sehr interessiert. Ich war in meiner Pfarre als Firmhelfer mit vielen pubertierenden „Rabauken“ betraut, habe zur Zeit des Kroatienkrieges Flüchtlingsarbeit gemacht, bei der Integration in den Arbeitsmarkt unterstützt, … dabei hat sich für mich mehr und mehr herauskristallisiert, dass mir das liegt. Die Arbeit in der Wirtschaft war immer unbefriedigender für mich. Als guter Steuerberater galt nur, wer alle „Tricks“ kennt … das wollte ich einfach nicht mehr. In der Sozialen Arbeit habe ich gemerkt, dass es um die Menschen geht, nicht um irgendwelche Zahlen. Meine Neuorientierung ist auch genau mit der Pubertät meiner Söhne zusammengefallen und damit auch mit der Aufarbeitung meiner eigenen Vatergeschichte. Ich musste aktiv dagegen arbeiten, in alte Muster und Rollen zu verfallen. Meine Diplomarbeit habe ich schließlich, auch aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeiten, zum Handlungsfeld Randgruppen und Minderheiten geschrieben.

Du hast ursprünglich bei NEUSTART Oberösterreich begonnen. Wann und warum hat es dich schließlich in die Steiermark verschlagen?
2022, wie gesagt der Liebe wegen aber auch wegen der neuen Perspektiven in der Gewaltpräventionsberatung. Ich muss dazu sagen, dass ich in Wels eine intensive und tolle Arbeitszeit verbracht habe. Wir waren ein gewachsenes Team aus vielen erfahrenen Kolleg:innen, die alle ihre fixen Rollen und Zuständigkeiten hatten. Es ging also auch ein bisschen um Abwechslung und Veränderung für mich. In der Steiermark mache ich jetzt nur noch Gewaltpräventionsberatung und Bewährungshilfe. Das finde ich sehr spannend, das ist ein ganz anderes Arbeiten, in Altersteilzeit.

Wie war dieser Wechsel von Oberösterreich in die Steiermark für dich?
Ich war damals 59, das war schon ein bisschen eine ambivalente Geschichte … Ich war zwar der Neue, aber nicht mehr ganz der „Frische“, nach 19 Dienstjahren bei NEUSTART Oberösterreich (lacht). Keine große Veränderung war der Wechsel vom Einrichtungsleiter Josef Landerl zur Einrichtungsleiterin Susanne J. Pekler, weil beide einen ähnlichen Stil haben. Neu waren sicher die Dimensionen. Graz ist schon etwas ganz anderes als Wels. Manchmal wurde ich am Anfang auch gebremst, wenn ich erzählt habe, dass wir in Oberösterreich manche Dinge anders gemacht haben. Sprich: „In der Steiermark machen wir es aber so“. Da war dann sogar ich still (lacht). Schwierig war im ersten halben Jahr, mich grundsätzlich neu zu orientieren. Alles war frisch und neu für mich. Wo ist die Justizanstalt? Wo ist der Eingang? Wer sind die regionalen Ansprechpersonen? In Wels kannte ich ja quasi alle, hatte ein Bild von meinem Gegenüber. Ich habe das aber auch als sehr belebend und erfrischend empfunden. Graz überhaupt. Mir kommt es hier fast mediterran vor (lacht). Das Neue hat sich für mich in jeder Hinsicht aufgetan. Das war wie ein Geschenk. Ich bin von Anfang an alles mit dem Rad gefahren, habe schnell die ganze Stadt und mein geografisches Arbeitsumfeld entdeckt und kann inzwischen sagen: „Ja, ich kenne mich hier aus“. Außerdem arbeite ich sehr gut mit meiner Abteilungsleiterin Katrin Koller zusammen. Wir können einfach gut miteinander. Ich werde sie und unser offenes und klares Verhältnis in der Pension sehr vermissen.

Was sind die Gemeinsamkeiten – aber auch Unterschiede – der beiden Standorte? Nicht nur was die Einrichtungen selbst, sondern auch was die äußeren Rahmenbedingungen in den Regionen betrifft.
Schwer zu sagen. Mir kommt vor, in der Steiermark ist alles ein bisschen zentraler geregelt. In Oberösterreich gibt es mehr Außen- und Sprechstellen, das kenne ich in der Steiermark bisher so nicht. Also es gibt mehr „Komm-Struktur“, wo die Klient:innen auch von weiter her in die Einrichtungen fahren. Sehr positiv fallen mir die Kooperationen mit den Frauenhäusern, Gewaltschutzzentren und der Männerberatung auf. Ich schätze die regelmäßigen intensiven Vernetzungstreffen sehr. Das ist nicht besser oder schlechter als in Oberösterreich aber einfach anders. Überhaupt haben wir ja in Oberösterreich diesen Ballungsraum Linz-Wels-Steyr, aus Graz ist man schneller draußen im „weiten Land“. Ja, es ist schon anders.

Du hast mir im Vorgespräch gesagt, dass du in Graz von Anfang an der „alte Hase“ warst und dich deine Abteilungsleiterin als „Jolly Joker“ bezeichnet. Wie genau profitieren deine Teamkolleg:innen von deiner Erfahrung? Mit welchen Fragen kommen sie auf dich zu?
Fachlich ist bei NEUSTART alles sehr klar. Wir haben gute Strukturen, da habe ich wenig Input. Es ist eher so der persönliche Umgang, also WIE ich etwas als Sozialarbeiter mache, der die Kolleg:innen interessiert. Auch jüngere Kolleg:innen, die ich, weil unsere Einrichtung auf zwei Gebäude verteilt ist, kaum kenne, kommen mit den verschiedensten Fragen auf mich zu. Da geht es zum Beispiel auch um private Sorgen und die Balance zwischen Beruf und Privatleben. Immerhin mache ich diese Arbeit schon sehr lange, habe nebenbei drei erwachsene Kinder. Das ist schon ein Erfahrungsschatz. Gleich am Anfang, als ich nach Graz kam, hat mich eine Kollegin, die gerade eine Trennung durchlebt hat, gefragt, wie ich es geschafft habe, die Arbeit mit den Klient:innen in einer ähnlichen Lebensphase trotzdem gut zu bewältigen. Welche Strategien mir da geholfen haben. Seither haben wir einen guten, freundlichen Draht zueinander. So etwas freut mich.

Bist du damit gleichzeitig ein Experte für besonders schwierige Fälle?
Das würde ich so nicht sagen. Ich war zwar immer interessiert und neugierig, habe mich aber nie auf eine Klient:innengruppe spezialisiert, z.B. im Bereich Dschihadismus. Bei mir hat es sich eher so ergeben, dass mir die ganz Jungen und die ganz Alten am liebsten sind (lacht). Langstrafige Mörder:innen oder Jugendliche, wo ich meine eigene Vatergeschichte durchspüre. Ich habe einfach ein großes Herz für die Burschenarbeit. Einen sehr alten Klienten habe ich vorletztes Jahr beim Sterben begleitet, weil er sonst niemand hatte. Das war mir persönlich ein Anliegen.

Wie hat sich deine Arbeit über die Jahre entwickelt und welche Anforderungen haben sich verändert?
Die Klient:innenanzahl ist schon stark gestiegen. Ich habe jetzt doppelt so viele Klient:innen wie am Anfang. Das geht, weil wir Sachen anders machen, viel fokussierter. Ich kannte dieses strukturierte Arbeiten und Dokumentieren aus meinem früheren Berufsleben im Steuerbüro, für manche Kolleg:innen war es aber schon eine enorme Umstellung. Früher gab es mehr Zeit, Fälle zwischen Tür und Angel zu besprechen. Fallbesprechungen waren generell ausführlicher. Auch Klient:innentermine haben teilweise viel länger gedauert. Mit der Steuernden Sozialarbeit ist es heute so, dass wir manchmal schon nach dreißig Minuten fertig sind und uns dafür öfter treffen und fokussierter bei der Sache bleiben.

War früher „alles besser“ oder hat sich das eine oder andere auch zum Positiven gewandelt?
Die nachgehende Sozial- und Beziehungsarbeit war früher nicht nur möglich, sondern Standpfeiler unserer Arbeit. Wenn sich jemand nicht mehr meldet, muss das ja nicht heißen, dass es sie:ihn nicht mehr interessiert, sondern sie:er vielleicht in einer akuten Krise ist. Früher sind wir dem nachgegangen, womit wir viel abfangen konnten. Auf der anderen Seite war das sehr zeitintensiv und jede:r steckte natürlich nicht in einer Krisensituation. Manche hatten einfach keine Lust mehr. Heute ist die Sache ganz klar: Wer nicht kommt, bekommt einen Brief, eine Einladung zum nächsten Termin, eine förmliche Mahnung, eine Mitteilung ans Gericht, … Ich finde den Zugang der Steuernden Sozialarbeit gut, für Kolleg:innen, die es 20 Jahre lang anders kannten, war es aber teilweise schwierig.

Gibt es so etwas wie einen typischen Arbeitstag für dich? Falls ja, wie sieht dieser aus?
Es ist wirklich jeder Tag anders, das merke ich noch mehr, seit ich in Altersteilzeit bin und nur von Montag bis Mittwoch im Büro. Klient:innen werden nämlich auch am Donnerstag und Freitag straffällig oder delogiert. Ich schaffe es dementsprechend kaum, Routinen zu haben und alles zu fixen Zeiten aufzuarbeiten. Da sind Flexibilität und gutes Zeitmanagement gefragt. In der Gewaltpräventionsberatung besuche ich Klienten auch im Gefängnis oder in der Psychiatrie. Gewisse Klient:innen sind außerdem nur am Abend erreichbar und ich arbeite eigentlich am Vormittag. Man passt sich an. In dieser Hinsicht ist auch das Home Office praktisch, an diesen Tagen muss ich nicht reinfahren und habe mehr Zeit, Sachen in Ruhe abzuarbeiten.

Was gefällt dir an deiner Arbeit am besten?
Die Menschen und ihre Geschichten. Darüber habe ich erst heute wieder mit einer jungen Kollegin gesprochen. Es ist so spannend, in welche Lebenswelten wir Einblick bekommen und zu sehen, welche Strategien Leute entwickeln, mit ihrer Situation, ihrer Prägung und ihren Talenten umzugehen. Es ist so bunt, so vielfältig. Auch kulturelle Aspekte interessieren mich sehr: Wie gehe ich in der Gewaltpräventionsberatung damit um, wenn jemand zwar die Sprache spricht, kulturell aber eine ganz andere Sichtweise hat? Diese Suche nach Schnittmengen taugt mir voll. Auch zu Menschen, wo man es anfangs nicht glaubt, entwickeln sich konstruktive Beziehungen. Ich kann mir keinen Beruf vorstellen, in dem man sich auch selbst als Person so weiterentwickeln kann wie in der Sozialarbeit. Klient:innen halten dir den Spiegel vor. Wer diese Arbeit ernst nimmt, ist in der Selbstreflexion gefordert.

Wo hast du gesehen, dass deine Arbeit etwas bewirkt?
Wenn mir Klient:innen am Ende der Betreuung sagen, dass sie etwas, das ich in einem Termin gesagt habe, beschäftigt und ihnen geholfen hat. Selbst erinnere ich mich oft gar nicht mehr an solche Details, die aber nachwirken und Knackpunkte sind. Also ja, durch die Rückmeldungen der Klient:innen – oft Jahre später.

Wie findest du persönlich Ausgleich zu deinem Job?
Ich war immer in der Natur – laufen oder in den Bergen. Dank meiner Knie- und Fußgeschichten, hat sich das inzwischen aufs Rad verlagert. Früher, vor meiner Zeit bei NEUSTART, habe ich Menschenmassen geliebt, das halte ich jetzt gar nicht mehr aus (lacht). Sogar nach der Chorprobe gehe ich direkt nachhause, weil mir das zu viel wird. Was noch? Lesen, sich Gutes tun, in die Sauna gehen oder einfach mal gar nichts machen. Das konnte ich früher nicht, das hat sich entwickelt. Außerdem meditiere ich schon mein halbes Leben, mal mehr, mal weniger. Das ist mein Anker, wo ich runter und zu mir komme.

Gibt es sonst noch etwas, das du mit deinen Kolleg:innen teilen möchtest? Was würdest du jüngeren Kolleg:innen, die gerade am Anfang ihres Berufslebens stehen, für die Zukunft mit auf den Weg geben?
Hinter jedem Delikt steckt ein Mensch. Wir müssen, unabhängig von der Einstufung der Intensität der Betreuung, Schwerpunkte setzen und schauen, was die Leute brauchen. Diese Gestaltungsfreiheit haben wir. Wir sollten sie nutzen – strukturell und persönlich. Wenn zum Beispiel jemand absagt, gewinnen wir eine Stunde, die wir einer:m anderen Klient:in widmen können. Und noch etwas: Ganz wichtig ist die Selbstfürsorge, um in der Freude an dieser schönen und wichtigen Arbeit bleiben zu können. Schau auf dich, erwarte das von niemand anderem.

Über die/den Autor:in

Laura Roth ist seit 2019 Teil des Kommunikations-Teams des Vereins NEUSTART. Ihre Schwerpunkte sind die interne Kommunikation und unsere Newsletter. In unserer Serie #TeamNEUSTART holt sie regelmäßig Kolleg:innen aus ganz Österreich vor den Vorhang

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